Berlin Art Week vom 13. bis zum 17. September 2017

Empfehlungen von Valérie Chartrain, freie Kuratorin in Berlin

Nadira Husain, Milky Way, Tempera auf Ikat-Stoff, 204 × 138 cm, Courtesy die Künstlerin

Nadira Husain, Milky Way, Tempera auf Ikat-Stoff, 204 × 138 cm, Courtesy die Künstlerin

Ich gebe zu, ich freue mich über die alljährliche Wiederkehr der Berlin Art Week, die nun bereits in ihr sechstes Jahr geht. Es gibt nur wenig andere europäische Hauptstädte, die sich so intensiv den diversen künstlerischen Richtungen – Tanz, Musik, Theater usw. – widmet. Die Berlin Art Week steht eine Woche lang für eine Stadt im Rhythmus der zeitgenössischen Kunst. Dieses Jahr macht die traditionelle Messe abc, neben Positions, der neuen Art Berlin Platz. Und dieses neue Berlin zieht mich sogar noch mehr an.

Eine Stadt, in der Ausstellungen gleichzeitig in Galerien und Institutionen eröffnen – und das Magische an Berlin ist die Unmenge an Ausstellungen von Künstler*innen unterschiedlichster Herkunft, die jedoch alle die Tatsache vereint, dass sie Berlin zu ihrem Lebensmittelpunkt, zum Ort ihrer Arbeit und Produktion auserwählt haben. So auch Monica Bonvicini in der Berlinischen Galerie, die seit einigen Jahren neu erwacht und sich auch immer stärker ortsansässigen Künstler_innen öffnet. Vor einigen Monaten war dies John Bock und in ein paar Tagen nun wird es Bonvicini sein. In Konfrontation mit modernistischer Architektur untersuchen ihre Arbeiten die Machtsysteme und sozialen Zusammenhänge zwischen Geschlecht und Klasse. Im Hauptraum der Berlinischen Galerie fokussiert Bonvicini mit ihrer Installation den Begriff der Fassade und ihrer Funktion. In den KW (Institute for Contemporary Art) wird eine Auswahl an Arbeiten der letzten zwanzig Jahre von Willem de Rooij gezeigt, die um ethische wie politische Konsequenzen der Massenmedien kreisen.

Willem de Rooij, Bouquet VI, 2010, Courtesy Collection Stedelijk Museum, Amsterdam

Willem de Rooij, Bouquet VI, 2010, Courtesy Collection Stedelijk Museum, Amsterdam

Der n.b.k. (Neuer Berliner Kunstverein) präsentiert das „Ready Made-Künstler“-Duo Claire Fontaine, denen es um die Dekonstruktion der Sprache des Kapitalismus und anderer Machtstrukturen geht. Kurzum, drei Positionen, die versprechen, unsere Sichtweisen auf die Welt umzustürzen. Und damit bleibt Berlin Ursprung eines kritischen Denkens, während viele andere Städte im Dienste eines Marktes agieren, der keine Unbestimmtheiten zulässt.

Auch in den Galerien gibt es eine Vielzahl an begeisterungsfähigen Ausstellungen wie beispielsweise die von Jean Pascal Flavien in der Galerie Esther Schipper. Der französische Künstler, der seit einigen Jahren in Berlin lebt, konstruiert innerhalb der Galerie ein Haus, im Maßstab 1:1. Da die Decke zu niedrig ist, muss das Haus beschnitten werden. Das zweigeteilte Haus, verbunden durch ein Scharnier, wurde dabei vom Universum des Autors Ballard inspiriert. Über Fensteröffnungen können die Besucher*innen jene Landschaft beobachten, die zwischen Sand und Steinen in die Galerie überführt wurde.

Jean-Pascal Flavien, Ballardian House, 2017, Courtesy der Künstler

Jean-Pascal Flavien, Ballardian House, 2017, Courtesy der Künstler

Nicht sehr weit von der Potsdamerstraße entfernt wird Nadira Husain die neuen Räumlichkeiten der PSM Gallery einweihen, thematisieren und aus ihnen zwischen fliegenden Holzpferden und lebhafter Malerei einen Ort der Farben und verwunderlichen Kindheitserinnerungen schaffen.

Weiter im Osten zeigt die Galerie Mehdi Chouakri, auch in ihren neuen Räumlichkeiten, die Show Goods von Saâdane Afif, ein weiterer Franko-Berliner. Hier liegt der Schwerpunkt auf limitierten Editionen des Künstlers: von seiner seltenen Postkartensammlung Fountain 2017 über einige Poster bis hin zur Premiere in der Zusammenarbeit mit der Münchner Juwelierin Saskia Diez.

Saâdane Afif, Goods, Ausstellungsansicht Galerie Mehdi Chouakri, Berlin, Courtesy Galerie Mehdi Chouakri, Berlin

Saâdane Afif, Goods, Ausstellungsansicht Galerie Mehdi Chouakri, Berlin, Courtesy Galerie Mehdi Chouakri, Berlin

Am anderen Ende der Stadt wird Simon Starling unter anderem mit einer neuen Arbeit, deren Inspiration er aus Quellen in Japan schöpft, bei neugerriemschneider gezeigt. Jede in der Ausstellung Stitched, Stretched, Cut, Carved etc. gezeigte Arbeit wirkt dabei wie individuellen Handwerkern gewidmete Porträts.

Die deutsche, in Paris lebende Künstlerin Katinka Bock trägt bei Meyer Riegger ihr Universum zwischen Fragilität und Stärke und die eigentliche Frage nach Materialität und Skulptur bei. Eine Ausstellung, die mir äußerst sehenswert erscheint, möchte ich abschließend nicht unerwähnt lassen: Es handelt sich um die Auftaktveranstaltung einer Serie, die die Galerie Chert Lüdde den Archiven der Mail Art von Ruth Wolf Rehfeldt und Robert Rehfeldt widmet, ein Berliner Künstlerpaar, das vor dem Mauerfall in Prenzlauer Berg gearbeitet hat. Der Auftakt beschränkt sich auf den Buchstaben A und umfasst eine alphabetische Liste von Künstler_innen, die in diese Kategorie fallen. Abgesehen von einer Auswahl an gerahmten Arbeiten  an der Wand werden alle Materialien auf Präsentationstischen den Besucher_innen zugänglich sein. Ich freue mich schon darauf, sie zu erkunden.

Ruth Wolf-Rehfeldt und Robert Rehfeldts Mail Art Archiv, Artwords & Bookworks, USA 1978, Courtesy die Künstlerin und ChertLüdde, Berlin

Ruth Wolf-Rehfeldt und Robert Rehfeldts Mail Art Archiv, Artwords & Bookworks, USA 1978, Courtesy die Künstlerin und ChertLüdde, Berlin

Und ich hoffe, es bleibt dann auch noch Zeit für das Festival of Future Nows, das Olafur Eliasson im Hamburger Bahnhof veranstaltet: Drei Tage lang Begegnungen, Performances und Gespräche darüber, wie man das Morgen denken könnte.

Das Berlin im Jahre 2017 hat nur mehr wenig mit dem unruhigen und jugendlichen Berlin der 90er nach dem Mauerfall zu tun, wenn auch weiterhin Mythen und Phantasmen präsent sind und florieren. Die Stadt ist erwachsen geworden. Sie denkt anders, ohne Nostalgie. Und das steht ihr gut. Kurz und gut, das alles macht Lust, den August für den fulminanten und aufregenden September aufzugeben, der uns auch zu denken geben wird…

Valérie Chartrain ist – neben Trendforscherin, Analytikerin, kreativer Strategin und Wein- und Spirituosenxpertin – freie Kuratorin und Mitbegründerin von Petunia, einer feministischen, spartenübereifenden Zeitschrift für Kunst und Kultur. Petunia wurde 2007 von Lili Reynaud, Dorothée Dupuis und Valérie Chartrain gegründet und hinterfragt seither Stereotypen.