Interview mit Anaëlle Pirat-Taluy

Wie hat Ihre Ausbildung als Künstlerin Ihre berufliche Laufbahn beeinflusst?
Während meines Studiums der Bildenden Künste habe ich fast keine Werke geschaffen. Meine Diplomprüfung bestand aus einer Konferenz mit Dokumenten zu nie realisierten Arbeiten. Ich habe mich als Kunstkritikerin präsentiert und habe über meine künstlerische Arbeit gesprochen, als wäre es die eines anderen.

Hat der Parameter Fiktion, oder Autofiktion, weiterhin einen Platz in Ihrer Arbeit?
Ich habe ein Pseudonym als Kunstkritikerin: Inès Sapin. Sie war es auch, die bei meiner Diplomprüfung aufgetreten ist. Seither benutze ich diesen Namen, um über Künstler zu sprechen, die ich gut kenne. Die Texte, die Inès verfasst, sagen nicht immer die Wahrheit. Das Pseudonym gestattet es mir auch, neue Diskurse zu erfinden, das heißt, Dinge zu sagen, die ich gar nicht denke.

Zum Beispiel?
Ich habe für einen Künstler namens Camille Laurelli einen Text verfasst, dessen Funktion es ist, all die Referenzen, die er verwendet, umzukehren, all die Dinge zu instrumentalisieren, die gegen ihn sprechen könnten. Ich habe es in seinem Auftrag getan, und es hat in Bezug auf seine Arbeit Wirkung gezeitigt.

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An welchem Punkt Ihrer Laufbahn kam der Gedanke an „Konservierung“ auf?
Ich hatte viel mit neuen Produktionen und kurzlebigen Werken zu tun. In diesem Umfeld ist dieses Konzept oftmals wenig präsent. Während meines Studiums an der Kunsthochschule habe ich jedoch schnell gemerkt, dass man Künstler und ihre Arbeit oft erst in Dokumenten, in Archiven, Katalogen usw. entdeckt. Erst dadurch hat sich mir die Frage nach Konservierung gestellt.

Stellen Sie sich als unabhängige Kuratorin vor?
Ich mag die Bezeichnung Kuratorin, weil der Begriff weit gefasst ist und viele Tätigkeiten einschließen kann. Den Begriff „unabhängig“ finde ich ziemlich schwierig und heikel, da wir letztlich immerzu Ersparnisse haben oder erarbeiten müssen, um unser Überleben zu sichern … Das schafft echte Abhängigkeiten. Was mich angeht, so war ich bis zum Sommer Produktionsbeauftragte am Le Magasin in Grenoble, und im Moment ist mein Status „arbeitslos“. Finanziell gesehen bin ich in einer schwierigen Lage.

Von welchen persönlichen Vorbildern lassen Sie sich bei Ihrer Arbeit leiten?
Im Grunde genommen ist es nichts sehr Originelles; Robert Filliou, vor allem sein Werk „Lehren und Lernen als Aufführungskünste“ und der Gedanke dahinter, dass man Kunst und Leben nicht trennen kann. Auch die Künstler Marcel Broodthaers und Francis  Alÿs inspirieren mich. Ansonsten habe ich eher literarische Vorbilder, Werke von  Theoretikern wie Hakim Bey, Yona Friedman, Fredric Jameson, Jean-Yves Jouannais, Henry-David Thoreau, Jacques Rancière oder Simone de Beauvoir.

Wenn man an „Sorge“ denkt, ausgehend vom englischen Verb „to care“ – worum kümmern Sie sich als Kuratorin?
Ich trage Sorge für die Künstler, fast noch mehr als für ihre Werke. Das kommt sicher daher, dass ich Kunst studiert habe und dadurch ein Netzwerk von Künstlern um mich herum habe. Sie sind nicht unbedingt bekannt, manchmal Außenseiter, aber sie sind sehr aktiv.

Inwiefern verlassen die Künstler sich auf Sie, Ihrer Meinung nach?
Wir arbeiten viel in der Gruppe. Vertrauen ist, ebenso wie Freundschaft, ein wichtiges Element. Auf diesem robusten Fundament beurteilt und kritisiert gewissermaßen jeder den anderen oder versucht, ihn und seine Arbeit zu legitimieren. Das ist mitunter ein sehr schleppender Prozess; es kann ein Jahr dauern, um ein paar Seiten über eine Arbeit zu schreiben.

Gibt es ein Thema oder „Genre“ in der Kunst, das Sie besonders interessiert?
Ich interessiere mich für den Status des Künstlers. Ich versuche, räumliche und zeitliche Arbeitsbedingungen zu schaffen, die wirklich geeignet sind für ein künstlerisches Schaffen. Das ist nicht einfach, da es sich um einen sehr komplizierten Beruf handelt. Es müssen wirklich Enklaven, Zonen und Netzwerke geschaffen werden.

Inwiefern ist das Verhältnis zum Publikum für Sie von Bedeutung?
Es gehört nicht zu meinen Prioritäten. Ich schreibe sehr gern, aber ich rede nicht sehr gern. Es ist heutzutage allerdings notwendig und wichtig, über das, was man tut, zu kommunizieren … Das war zum Beispiel mit dem Kunstzentrum OUI in Grenoble der Fall, wo wir mit verschiedenen regionalen Publikumsgruppen gearbeitet haben, oder auch beim „Export“ von Künstlern in andere Länder. Wir haben zum Beispiel schon mit Estland und Bosnien zusammengearbeitet. Unser Publikum ist daher sehr ortsgebunden und weitläufig zugleich, in einem recht spezifischen Netzwerk.

Ist es Ihre erste berufliche Zusammenarbeit mit dem Institut Français?
Letztes Jahr habe ich ein Projekt in Zusammenarbeit mit dem Prager Institut Français entwickelt, das uns dort empfangen hat. Für mich ging es hauptsächlich darum, eine gemeinsame Sprache in einem fernen oder zumindest sehr fremden Land zu haben. Es scheint, dass der Ansatz der kulturellen Auslandsvertretung an Bedeutung gewinnt, und für unseren Beruf ist das eine äußerst stimulierende Perspektive.

Was erwarten Sie sich von dieser „Pilotwoche“ in Berlin?
Ich finde es interessant, mich mit anderen Fachleuten meines Alters auszutauschen. Ich stelle fest, dass wir durch unsere Unabhängigkeit alle eher Einzelgängerinnen bei  unseren Recherchen sind, und bei einem solchen Anlass wird man auch einmal mit anderen Arbeitsweisen und Problemstellungen konfrontiert. Wir speichern diese Woche eine Menge Informationen, das ist sehr spannend.

Zu welchen Projekten kehren Sie nächste Woche zurück?
Ich habe mehrere Publikationen vor mir für einen Verlag, den wir in Grenoble neu aufgebaut haben, Les Éditions AAA. Ich arbeite vor allem an einem Gemeinschaftswerk über das Label Dick Head Man Records und an einer Monographie über den Künstler Clôde Coulpier. Und schließlich stehe ich kurz vor einem Arbeitsaufenthalt in Clermont-Ferrand. Um Geld zu verdienen, würde ich sehr gern an einer Kunstschule unterrichten.

Fotos von Marlen Mueller | Interview von Jeanne-Salomé Rochat