Nikola Dietrich teilt ihre Eindrücke von Paris mit uns

Dieses Jahr wurde Nikola Dietrich, Direktorin des Kölnischen Kunstverein, gemeinsam mit 14 weiteren internationalen Kurator*innen zum FOCUS-Programm während der FIAC nach Paris eingeladen. Nun teilt sie mit uns ihre Erfahrungen während des Aufenthalts in der französischen Hauptstadt. 

(c) Nikola Dietrich

Nach dem 5-tägigen, äußerst umfassenden Focus-Programm hat sich das Gefühl verstärkt, dass Paris in den letzten Jahren nicht mehr nur als überaus bedeutsam für seine grandiosen Sammlungen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wie beispielsweise das Musée d’Orsay, Centre Pompidou oder Jeu de Paume (um nur einige zu nennen) angesehen werden kann. Inzwischen hat sich auch die zeitgenössische Kunst in der Stadt weiter geformt und es sind einige (mir teilweise noch unbekannte) Orte entstanden, die sich den aktuell schaffenden Künstler*innen vermehrt zuwenden. Die Gruppe der 15 eingeladenen internationalen Kurator*innen hatte somit auch die Möglichkeit, neben einem der Hauptprogramme, dem Besuch der International Art Fair – FIAC, Ausstellungsräume zu sehen, die bisweilen noch nicht lange existieren und mit ihrer enormen Produktivität und Aktivität zu einer merklichen Belebung der lokalen Kunstszene führen.

Durch den Zusammenschluss von verschiedenen Initiativen hat sich beispielweise „Tram Network“ zu einem Gefüge herausgearbeitet, dem heute 33 Institutionen in der Ile-de-France Region angehören. Mit vereinten Kräften arbeiten deren Mitglieder an kollektiven Projekten, Workshops und Ausstellungen zusammen, um durch Networking und Vermittlungsangebote ein möglichst breit gefächertes Publikum in den Regionen zu erreichen.

Villa Vassilieff (c) Mélanie Matranga

Villa Vassilieff: Melanie Matranga

Die erst 2016 gegründete Institution in dem früheren Atelier der Künstlerin Marie Vassilieff im Herzen des Montparnasse gehört u.a. zu diesem Zusammenschluss und ist eine weitere Aktivität des bereits seit 2003 existierenden Bétonsalons (seit 2007 am Campus der Paris Diderot Universität ansässig). Der Wunsch, an die weitreichende (Kunst)Geschichte dieser unmittelbaren Nachbarschaft anzuknüpfen, indem Künstler*innen und Wissenschaftler*innen eingeladen werden, um mit ihrem je eigenen zeitgenössischen Blick auf das Erbe vom Montparnasse zu blicken, wird auch in dieser Ausstellung offensichtlich.

Melanie Matranga nimmt sich das Gebäude als solches vor und bearbeitet es so, dass das Außen mit dem Innen in Berührung kommt, Grenzen verschwimmen und Spuren über die Zeit hinweg zurückbleiben. An den Wänden – allesamt mit Zuckerwasser bestrichen – haftet ein feiner Staub und ein paar kleine Insekten, ein weißer Teppichboden, der in allen Räumen ausliegt, zeigt erste Verschmutzungen, Zimmerpflanzen sind überall verteilt und scheinen die an der Außenfassade dicht empor wachsenden Pflanzen im Inneren zu spiegeln. Zusammen mit Soundstücken und den für die Künstlerin typischerweise angefertigten Kleidern aus Papier entsteht eine Umgebung, angereichert mit Versatzstücken aus unseren Erinnerungen und ganz persönlichen Abdrücken.

(c) Umwelt Monde

Der Besuch der Non-Profit Organisation DOC war sehr aufschlussreich. Eine ehemalige und seit längerer Zeit schon verlassene Technikschule wurde zu einem unabhängigen Ort der künstlerischen Produktion. Mithilfe individueller Skills der 60 Mitglieder umfassenden Vereinigung entstand ein einmaliges Umfeld für jegliche Art der kulturellen Produktion und kritischen Auseinandersetzung. Einstige Metall – und Druckwerkstätten wurden ausgebaut, Ateliers für unterschiedliche Praktiken renoviert – von Schneiderei bis zu Malerei – ein Ausstellungs- und Veranstaltungsraum geschaffen, die zusammen einen hybriden für dynamische Ansätze generieren.

Umwelt Monde war Titel einer Ausstellung, unter der sechs Einzel-und Gruppenausstellungen gezeigt wurden, die das Thema der Herkunft reflektierte, verstanden im Sinne einer Gemeinschaft als von Geografie bestimmt.

Beim Besuch des Cité internationale des Arts hatten wir Glück auch die Ausstellung von Bernadette von Huy (Mitbegründerin von Bernadette Corporation) sehen zu können. Parallel zur Veröffentlichung ihres ersten Buches wurde für die Dauer der Ausstellung die sonst für die Künstlerin Gina Folly als Residency zur Verfügung stehende Wohnung zum Zweck der Präsentation umgenutzt und das Bett gleichsam ins Zentrum des Raumes gerückt. Liegende Positionen, im Bett, in Chaiselongues werden dann auch von den Portraitierten auf den Fotografien eingenommen und sind direkte Referenzen an Manets Olympia (aus der Sammlung des Musée d‘Orsay).

The Dorothea Lange Collection, Oakland Museum of California. The artifact pictured is a digital scan of a copy print made from Dorothea Lange’s personal print and negative collection. Digiitized for the Oakland Museum of California.

Für mich endete der Paris Aufenthalt mit einem eigenständigen Besuch des Jeu De Paume und der sehr guten, aber bedrückenden Ausstellung Politics of Seeing der Fotografin Dorothea Lange (1895, Hoboken, New Jersey–1966, San Francisco, California). In Kapiteln unterteilt, legen ihre Fotografien Zeugnis von den Auswirkungen einschneidender Ereignisse auf die Bevölkerung Amerikas ab – wie die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre oder die Internierung japanischstämmiger Amerikaner (1942). Nicht nur dass die Fotografien über eine Periode und dem Leiden der Menschen Aufschluss geben, über das man sonst wenig gewusst hätte, erlangen sie ihre ungeheure Kraft vor allem dadurch, dass die Fotografin eine sehr vertraute Beziehung zu den Portraitierten aufbauen konnte, was allein schon die kurzen biografischen Beschreibungen zu den Personen zeigen.


Nikola Dietrich ist Kunsthistorikerin und Kuratorin. Seit diesem Jahr ist sie Direktorin des Kölonischen Kunstvereins. Von 2008 bis 2013 war sie Chefkuratorin am Museum für Gegenwartskunst in Basel und kuratierte Ausstellungen von Henrik Olesen, Hilary Llyod, Rodney Graham, Monica Bonvicini / Tom Burr, Tim Rollins & K.O.S., Robert Gober, die Ausstellung “Tell it to my heart. Collected by Julie Ault” und andere. Zuvor war sie Kuratorin am Portikus in Frankfurt und hat unzählige Ausstellungen und Publikationen unter anderem mit Francis Alys, John Baldessari, Judith Hopf, Paulina Olowska und Bonnie Camplin verantwortet. Seit 2014 ist sie zudem Mitherausgeberin des in Berlin herausgegebenen Starship Magazin.