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Katia Porro

Katia Porro ist Übersetzerin, Kritikerin und Kuratorin und seit 2021 Direktorin von In extenso und La Belle Revue. Ihr transdisziplinärer Werdegang an der Schnittstelle von Kunst, Design und Sprache hat sie dazu geführt, Themen wie die sozialen und politischen Dimensionen des häuslichen Raums und der gebauten Umwelt, die darin wirkenden Machtsysteme, die Rolle von Objekten als Träger von Affekten sowie die Politik der Emotionen und der Übersetzung zu erforschen. Sie hat einen Master in Designgeschichte von Parsons Paris und einen Master in zeitgenössischer Kunst und Kuratieren von Ausstellungen von der Universität Sorbonne. Sie hat Ausstellungen in Frankreich und auf internationaler Ebene organisiert und veröffentlicht regelmäßig Texte in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften.

Katia Porro nahm am Programm „Rendez-vous: Treffen von Direktor*inne und Kurator*innen aus deutschen und französischen Kunstzentren“ teil, das im November 2024 vom Büro für Bildende Kunst des Institut français Deutschland organisiert wurde. Sie hat einen Text veröffentlicht, in dem sie ihre Erfahrungen mit dem Programm teilt. Lesen Sie ihn hier.

„Bist du bereit?“ Rückblick auf das Programm „Rendez-vous“ von Katia Porro

Bist du bereit? Rückblick auf das Programm Rendez-vous von Katia Porro

„Bist du bereit?“ Diese Frage, die auf eine in der Kunsthalle Osnabrück gekaufte Mütze gestickt wurde, könnte ich mit etwas Abstand als ein wiederkehrendes Motiv ansehen, das mich durch das gesamte Rendez-vous-Programm begleitet hat. Im Nachhinein betrachtet, scheint sie sich an jeder Ecke zu stellen: Bist du bereit, 15 Kunsträume in 12 Städten in nur 4 Tagen zu erkunden? Mit dem Koffer in der Hand von einem Kunstzentrum zum nächsten – ja, buchstäblich – zu rennen, bevor du dank der Ausfälle bei der Deutschen Bahn neun Stunden damit zubringst, für die Heimreise nach Frankreich von einem Zug in den anderen zu springen? Bist du bereit, in einen winzigen und unauffälligen Raum zu klettern, in das Dachwerk eines Gebäudes von Frank Gehry vorzudringen und endlich zu begreifen, wie das alles zusammenhält? Und bist du bereit, dich auf die Intensität dieser Reise einzulassen, den Reichtum jeder Begegnung zu genießen und darüber nachzudenken, wie wir Kunstarbeiter*innen überall ständig zwischen dem schrillen Glanz der Kunstwelt und den oft unsichtbaren Herausforderungen, die sie am Leben erhalten, hin und her manövrieren?

Im November 2024 schloss ich mich Maëla Bescond, Benoît Lamy de La Chapelle, Loïc Le Gall und Alexia Pierre – alles Direktor*innen und Mitarbeiter*innen von französischen Kunstzentren – für eine Reise nach Deutschland im Rahmen eines Programms an, das sich der Förderung der institutionellen Zusammenarbeit zwischen französischen und deutschen Einrichtungen verschrieben hat. Man könnte behaupten, ich würde den Begriff „Institution“ etwas zu weit gefasst verwenden, denn In extenso, der Ort für zeitgenössische Kunst, den ich leite, kann genau genommen bei weitem nicht als solcher bezeichnet werden. Bei In extenso handelt sich um ein kleines Kunstzentrum, das von einem gemeinnützigen Verein in Clermont-Ferrand betrieben und 2022 gegründet wurde und eine kostenlose Zeitschrift für zeitgenössische Kunst mit dem Titel La belle revue herausgibt, und das aufgrund seiner Größe und seiner Ressourcen, sowohl personell als auch finanziell, oft unterschätzt wird. Und dennoch spiegelt unsere Arbeit die von anerkannten Kunstzentren wider: Realisierung von Ausstellungen, Unterstützung von Forschung und Experimenten und Ausbau der Vermittlungsarbeit. Meine Teilnahme an diesem Programm spiegelt also eine notwendige Infragestellung der Hierarchie zwischen Strukturen und Ebenen wider – und das zu Recht, denn die gleichen Herausforderungen, denen wir auf den unterschiedlichen Ebenen begegnen, haben die Gemeinsamkeiten zwischen uns Partnern in den Vordergrund gestellt. Aber zurück zu dieser Reise nach Deutschland im November 2024…

In diesem Strudel der Ereignisse – vier Städte pro Tag, oder zumindest fast, kurze Gespräche während der 45-minütigen Zusammenkünfte, die wir in den öffentlichen Verkehrsmitteln auf dem Weg von einer Ausstellung zur nächsten, von einer Stadt zur nächsten fortsetzten – haben wir Gemeinsamkeiten entdeckt und Beziehungen aufgebaut zwischen uns und unseren deutschen Partnern. Auch wenn wir viel über die Herausforderungen gesprochen haben, denen wir uns heute stellen müssen – Budgetkürzungen, politische Einflussnahme, der auf der Kulturarbeit beständig lastende Druck –, so hat dieser Austausch doch auch einen Nährboden für ein besseres Verständnis unsere Existenz (in Anlehnung an das Buch Notre condition von Aurélien Catin) als Kunstarbeiter*innen geschaffen. Diese Gespräche haben die von uns besuchten Ausstellungen keineswegs in den Hintergrund gedrängt, sie standen vielmehr im Einklang mit den künstlerischen Angeboten, die sich mit Themen wie Gewalt und Machtverhältnissen auseinandersetzten.

Was mich am meisten überrascht hat, war nicht so sehr die Allgemeingültigkeit dieser Kämpfe, sondern die Intensität, mit der sie zum Ausdruck gebracht werden. Es zeigte sich, dass einige große Institutionen, namhafte und prestigeträchtige Kultureinrichtungen, zum Teil von oft kleinen und überlasteten Teams unterstützt werden. Manchmal nur zwei oder drei Personen, die mit großem Aufwand renommierte Programme auf die Beine stellen. Es liegt eine gewisse Ironie darin, über unsere oft unsichtbaren Arbeitsbedingungen in diesen umgenutzten kleinbürgerlichen Räumlichkeiten zu sprechen, in denen wir tätig sind. Diese sind zum einen imposant und zum anderen von einer Geschichte geprägt, die unseren Arbeitsaufwand in den Schatten stellt.

Und dennoch waren diese Gespräche tröstlich und geprägt von einer seltenen und notwendigen Solidarität. Wir haben über das Gefühl der Einsamkeit gesprochen, das uns bei der Leitung künstlerischer Einrichtungen befällt, die, wie in unserem Fall, oft fernab der großen Kulturzentren beheimatet sind, und über das, was dies mit sich bringt. Über die unerschöpfliche Energie, die es braucht, um durchzuhalten, auch wenn die Ressourcen und die Anerkennung selten den aufgewendeten Anstrengungen gerecht werden. Und trotzdem finden wir immer wieder Gründe weiterzumachen. Gründe, bereit zu sein, immer wieder.

In einigen der Ausstellungen, in denen diese Gespräche stattfanden, schwangen Themen mit wie Gewalt, Unsichtbarkeit und bittersüße Beziehungen zu unserem Umfeld.

Im Haus am Waldsee füllten die Puppen im Maßstab 1:1 von Gisèle Vienne – unbeweglich, von unsichtbaren Verletzungen und Bürden gezeichnet – den Raum mit einer bedrückenden Stille. Ihre Präsenz erforderte eine Auseinandersetzung mit latenten Spannungen, die im Material selbst dieser erstarrten Körper sichtbar waren. Der Körper wurde so zum Ort des Leidens, aber auch des Schweigens und zum stummen Zeugen für häusliche Gewalt. Neben diesem Aspekt befasste sich diese Arbeit von seltener Relevanz auf globalerer Ebene mit den Machtsystemen, die unsere Gesellschaft durchdringen, und machte unsichtbare Kluften deutlich. Sie regte dazu an, über globale Formen der Gewalt nachzudenken, die bei uns oft totgeschwiegen werden, und Maßnahmen zu unterstützen, die diese Machtdynamiken anprangern. Vor allem aber machte sie die Dringlichkeit deutlich, sich jeder Form der Unterdrückung zu widersetzen. Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung der Fotografien von Rene Matić im CCA, die während einer propalästinensischen Demonstration aufgenommen wurden, – ein mutiger Schritt angesichts der politischen Lage, die von Zensur-Vorwürfen geprägt ist.

Das Keychain-Programm des Kunstvereins in Bielefeld stellte dazu ein Gegenstück dar, eine Geste der Widerstandsfähigkeit. Die Co-Direktorinnen Katharina Klang und Victoria Tarak übergeben die metaphorischen „Schlüssel“ ihrer Institution an andere und laden zu einem Dialog zwischen den Räumen und ihren Bedingungen ein. Die Last des realen Lebens des einen und des anderen anzuerkennen, den Stimmen mehr Raum zu geben, statt sie zum Schweigen zu bringen – vielleicht liegt darin die Hoffnung, wie auch der Kampf.

Das Projekt Liquid Currency Bar von Zoe Williams im Dortmunder Kunstverein bezog auch die Themen Werte und Wirtschaft mit ein. Diese Installation, die aus einer Bar und einer Bühne mit einem pissgelben Vorhang besteht und für Performances und Events konzipiert wurde, hinterfragt Wertschöpfungsketten. Ein Beispiel: Eine Flasche Champagner für 100 Euro wird getrunken, nur um anschließend ausgepisst und zu Abfall zu werden. Es stellt sich somit die Frage nach den Input-Output-Strömen, nach unserer Arbeit und ihrem Wert und hinterfragt die Absurditäten der libidinösen Ökonomien.

Und schließlich die Einzelausstellung On the Street Where You Live von Steve Bishop in Osnabrück. Das in einer ehemaligen Kirche geschaffene Bild einer Vorstadtszene – ein vor einer Garage geparktes Auto, aus dem Jazzmusik ertönt, der vertraute und gleichsam seltsame Geruch einer Tiefkühltruhe, Fotos von der Familie in Disneyland, Lichter, die uns wie Wachen überall hin verfolgen. Es wirkt wie ein Requiem der Unschuld, eine Erinnerung an den Moment, in dem die tröstliche Illusion der Kindheit zerplatzt und uns mit den ungeordneten Widersprüchen des Erwachsenseins konfrontiert. In Bezug auf unsere Reise fühlte sich dies an wie ein bittersüßes Echo: das unmögliche Gleichgewicht zwischen dem Glauben an das, was wir tun, und dem Navigieren durch die Desillusionierung.

Und schließlich geht es nicht nur darum „bereit“ zu sein. Die Frage, die Nan Goldin in Berlin am Tag unserer Abreise aus Deutschland stellte, ist viel dringlicher: „Hören Sie auch wirklich zu?“ Als sie sich bei der Eröffnung ihrer Ausstellung an das Publikum wandte, sprach sie über die historische Amnesie und die heimtückische Flut des Schweigens. Ihre Worte klangen wie eine Herausforderung. Gemeinsam bereit sein. Sich organisieren. Gegen das Schweigen ankämpfen, für Räume kämpfen, in denen die Kunst noch die Wahrheit sagen kann. Einander zuhören.

Alexia Pierre

Alexia Pierre ist Kuratorin und Kritikerin und lebt derzeit in Grenoble, wo sie als kuratorische Assistentin an der künstlerischen Programmgestaltung des Magasin, Centre national d’art contemporain, mitwirkt. In ihren Forschungen und unabhängigen Projekten, die sich mit Fragen von Maßstab und Ökologie befassen, interessiert sie sich für das Konzept der Translokalität sowie für die Verbindungen, die zwischen weit entfernten Gebieten bestehen oder entstehen können. Ihre Praxis basiert auf einem Ansatz, in dem langfristige Prozesse und aufmerksames Zuhören als methodische Werkzeuge dienen.

Sie ist Kuratorin der Einzelausstellung von Lise Thiollier, Métamorphoses de sel, in La Galerie, Centre d’art contemporain d’intérêt national in Noisy-le-Sec (2025), sowie der Gruppenausstellung Ailleurs est ce rêve proche, de murmures d’eaux confiantes, die in Resonanz mit der Ausstellung von Julien Creuzet im Magasin CNAC (2023) konzipiert wurde. In London war sie Co-Kuratorin der Ausstellung soothing streams in den Art Hub Studios (2021) und initiierte das wandernde Künstlerbuch collapsing scale (2022). Als Mitglied der Temporary Art Platform (TAP) gab sie den Forschungs-Toolguide A Few Things We Learned about Art, Ecology, and the Commons (2021) heraus, der aus dem gleichnamigen Projekt hervorging, das in einem Stadtwald in Beirut realisiert wurde.

Zuvor war sie unter anderem als Assistenzkuratorin für Ausstellungen und Programme am ISCP in New York tätig. Nach einem Studium der Politik- und Sozialwissenschaften sowie einem Master in Public Affairs an der Sciences Po Paris schloss sie 2022 ein MFA Curating an der Goldsmiths University in London ab.

Seit 2024 unterrichtet sie an der Sciences Po Paris.

Alexia Pierre nahm am Programm „Rendez-vous: Treffen von Direktor*inne und Kurator*innen aus deutschen und französischen Kunstzentren“ teil, das im November 2024 vom Büro für Bildende Kunst des Institut français Deutschland organisiert wurde. Sie hat einen Text veröffentlicht, in dem sie ihre Erfahrungen mit dem Programm teilt. Lesen Sie ihn hier.

 

Foto Credit : © Melek Berfin Altınışık

 

Alexia Pierre – Pause for/to love?

Rezension der Einzelausstellung von Rene Matić AS OPPOSED TO THE TRUTH im CCA Berlin

Von Alexia Pierre – Teilnehmerin des Programms „Rendez-vous: Treffen von Direktor*innen und Kurator*innen aus deutschen und französischen Kunstzentren“, das im November 2024 vom Büro für Bildende Kunst des Institut français Deutschland organisiert wurde.

“I do look at love so much in my work, as a way of surviving
and trying to find a way out of this kind of chaos”

– Rene Matić (von Emma Russel, i-D, Okt. 2023)

Uns empfängt das blutrote Leuchten der Neonröhren am Eingang des Center for Contemporary Arts (CCA), eine weitere Station unseres vor wenigen Stunden begonnenen Berlin-Marathons, das einen deutlichen Kontrast zu dem blauen Licht der Fenster aus Glasbausteinen bildet, das von draußen durchschimmert. Die modernistische Architektur des Gebäudes, eine Betonwabe, die an die neue Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche angrenzt, und die Einrichtung mit Holzmöbeln verleihen dem Raum eine Atmosphäre der Dualität: kühle Funktionalität und Ehrfurcht vor dem Erinnern treffen hier aufeinander, die unpersönlich-bürokratische Schlichtheit dieses ehemaligen Foyer-Gebäudes scheint hier mit häuslicher Wärme verwoben.

Nach nur wenigen Schritten durch den minimalistischen Korridor, der die Umrisse des kubischen Kunstzentrums markiert und zu den Ausstellungsräumen führt, sieht man in einem kleinen Separee einen hellen, weit geöffneten Holzschrank. Dieser enthüllt eine Sammlung von Puppen mit schwarzer Hautfarbe, die liebevoll auf den Schrankböden arrangiert wurden und uns anstarren.

Mit diesem ersten Werk beginnt die Ausstellung AS OPPOSED TO THE TRUTH. Es ist die erste Einzelausstellung der britischen, in London ansässigen Künstlerin Rene Matić (geb. 1997 in Peterborough, GB) in Deutschland. Fotografien, Filme, Texte und Installationen werden nebeneinander präsentiert, sie überschneiden sich, um daraus eine ausgesprochen persönliche Kunst zu machen, mit der die Künstlerin Themen wie Identität, Subkultur, Glaube und Familie umreißt. Neben der Sammlung nimmt sich Matić mit Restoration (begonnen 2022) liebevoll dieser Puppen an, deren nachlässige Behandlung in ihren offensichtlichen Wunden und Narben offenbar wird und auf die Erfahrung des Vaters der Künstlerin verweist, der als Kind in Peterborough ausgesetzt wurde und bei den Skinheads eine Zuflucht fand. Diese Bewegung entstand in den 1960er Jahren und war anfangs durch Zusammenkünfte rund um die jamaikanische Musik unterschiedlicher Stilrichtungen wie Ska und Reggae geprägt. Bekräftigung der schwarzen Identität sowie der Glaube an die Liebe, die trotz systematischer Unterdrückung und Ausgrenzung fortbesteht und heilt, gehören somit zu den Grundlagen von Matićs Arbeit.

Kussszenen werden mit Graffiti verflochten, halbnackte Körper wilder Partynächte überlagern Transparente sozialer Bewegungen. Lichter der Nacht. Pausen, die die Fotografie der Zeit, dem Leben und der Künstlerin bietet. Die Fotografien der Serie Feelings Wheel (begonnen 2022) zeigen intime Momente, die gewählte Familie, Tanzszenen, Feiern, Demonstrationen. Die Spontanität dieser Aufnahmen spiegelt sich, transparent und fragil, in ihrer Präsentation zwischen Glasplatten wider, die einfach auf dem Boden stehen und scheinbar achtlos an die Wände des Raums gelehnt sind. Man muss nah an sie herantreten, in die Hocke gehen und sie wie auf der Suche nach einer CD durchstöbern. Daraus ergeben sich neue Überlagerungen der Motive, die so immer neue Geschichten erzählen. Auch die Stimmen vermischen sich, fügen sich neu zusammen. „Lift me up / Keep me safe, safe and sound.“1 Rihannas Stimme folgt auf die von James Baldwin und bell hooks, deren Stimmen wiederum mit persönlichen Gesprächen, Nachrichtenfragmenten und den Glocken der nahegelegenen Kirche verschmelzen. Dieser Dreiklang mit dem Titel 365 (2024) zeigt die charakteristische Zersplitterung unserer Gesellschaft auf und wird in einem winzigen Tanzsalon für Ballroom Dancing gehört. Der Körper steht dabei im Mittelpunkt und wird in neonrotes Licht getaucht.

Die ebenso behutsame wie radikale Arbeit von Rene Matić unterstreicht die Verletzlichkeit der Intimsphäre, fordert den Glauben an das, was uns in der uns umgebenden Gewalt erschüttert und wieder aufstehen lässt. Der in ihren Werken zum Ausdruck kommende Wunsch – das Bedürfnis? – nach Liebe fügt sich ein in diesen intimen Rahmen des CCA und seine bedeutungsvolle geografische Lage: ein Mahnmal des Friedens und der Aussöhnung. Die Installation Untitled (No Place for Violence) (2024), eine Fahne, die den größten Raum der Ausstellung im Grunde in zwei Hälften teilt und auf der die Worte „No Place“ (Vorderseite) und „For Violence“ (Rückseite) stehen, trifft mit Ironie und Symbolik den Nagel auf den Kopf. Kopf oder Zahl?

Zeit zur Besinnung an einem Ort, durch eine künstlerische Praxis; durch ein vielfältiges Programm an Besuchen und Begegnungen schien die Zeit stillzustehen. 15 Einrichtungen in 10 Städten – hier lege ich jetzt eine Pause ein.       

Foto credit: Rene Matić AS OPPOSED TO THE TRUTH Installation view CCA Berlin 2024-25 Photos Diana Pfammatter-CCA Berlin

1 Ausschnitte aus dem Song „Lift Me Up (From Black Panther: Wakanda Forever“ (2022) von Rihanna

LILA TORQUEO – THE SHOW CAN’T GO ON, SO WHO DO YOU WANT ME TO BE ? (2024)

Lila Torquéo ist eine junge Kuratorin und Kunstkritikerin, die 2024 für das Reise- und Forschungsstipendium in Deutschland ausgewählt wurde. Im Rahmen dieses Programms hat sie den kuratorischen Text „The show can’t go on, so who do you want me to be ? (2024)“ verfasst, der das Ergebnis ihrer Recherchen während ihrer Besuche in Berlin, Köln, Düsseldorf und Hamburg ist.

Eine einmonatige Wanderung durch Deutschland hat mich in die trüben Gewässer der schwarzen Romantik, des Punk-Minimalismus und des deutschen Expressionismus geführt. Alles begann im „Kathy Acker Reading Room“ in Köln, in dem ich einige literarische Texte und theoretische Hilfsmittel sammelte. Diese Lektüren bereiteten mich auf die radikalen Vorstellungen von Gisèle Vienne vor, die mittlerweile in der Berliner Szene zu Hause ist. Nicht weit von der ihr gewidmeten Ausstellung im Haus am Waldsee, die im September 2024 eröffnet wurde, geht es in der Ausstellung von Calla Henkel & Max Pitegoff um eine andere Form der Theatralität. Der vorliegende Text berichtet über diese Ausstellung sowie über andere Ausstellungen, die ich in Berlin, aber auch in Köln, Düsseldorf und Hamburg besucht habe. Das Schreiben dieses Textes beendete ich zwischen den Regalen der Bibliothek des CN D – Centre National de la Danse – in Pantin, die über eine besonders breite Auswahl an Büchern über Gisèle Vienne verfügt. Diese Reise wurde durch die Unterstützung des Büros für Bildende Kunst | Institut français Deutschland möglich gemacht, dem ich meinen herzlichen Dank aussprechen möchte.

Angharad Williams, Origin nature destiny 5, 2024, inkjet print on satin paper, museum glass, custom frame, Courtesy Schiefe-Zähne.

In den 80er und 90er Jahren ähnelte die Kölner Kunstszene einer fröhlichen Seifenoper, zwischen Bars und Galerien, die Martin Kippenberger und andere ikonoklastische Künstler:innen in irre Shows verwandelten, in einer Mischung aus Chaos, Kameradschaft und exzentrischem Glamour. Einige von ihnen, darunter Michael Krebber und Jutta Koether, zogen nach New York, während andere wie Rosemarie Trockel und Cosima von Bonin blieben. Julia Scher und Matthias Groebel erfuhren noch nicht die Anerkennung, zu der die Galerie DREI inzwischen beigetragen hat. Mit Matthias Groebel spreche ich über die geordnete Schizophrenie zwischen seiner Arbeit als Apotheker und seinem Leben als Künstler, die so weit ging, dass Cosima von Bonin offenbar nicht wusste, dass sie die Medikamente für ihre erkälteten Hunde bei einem so genialen Künstler holte. Wir sprechen über „Hauntologie“, Mark Fisher, die – klangvollen, metallischen und sinnlichen – Grautöne seiner Werke und das texturlose, mondäne und generische „sad grey“ als Syndrom der postmodernen Atrophie. Die Porträts der Punks, die Groebel in den „Midnight Programs“ im Fernsehen beim Tanzen beobachtete, starren uns heute in Vernissagen an, die wir wie verirrte Mäuse bevölkern, wie gefangen im gelatinösen Voyeurismus der Zeit. Wir, die Fernsehzuschauer:innen von gestern, sind zu den Akteur:innen von heute geworden.

Zur gleichen Zeit werden Werke von Julia Scher in der Galerie DREI ausgestellt. Mikrowellenherde werden zu Überwachungskameras, Videoprojektoren, Monitoren und Drehtellern, auf denen sich inszenierte Homunculi türmen. Diese stereotypen Figuren eines Endzeitstadiums der Menschheit ziehen hier ihre letzte Show ab, während andere, bereits verstümmelt, im Niedergang begriffen sind, zu Zahlen verfallen, zu rohem Fleisch, das zum Braten bereit steht. Zwischen den pastellrosafarbenen Nuancen der Haushaltsgeräte und den fatalen Folgen der vom Militär genutzten Hochfrequenzwellen vermischt Scher das Militärische und das Häusliche auf dem Operationstisch des 21. Jahrhunderts. Ihre Cyberromantik eröffnet eine vierte Dimension, in der sich die Körper in ihrer Porosität als Empfänger von Wellen und Strömen akzeptieren, gefangen in kosmischen Spielen mit Maßstäben und Rückkopplung. Diese Öffnung in die Unendlichkeit erinnert an die von Julie Becker, die in „Whole“ (1999) den Boden ihres Studios durchlöcherte und in das Loch ein Modell der „California Federal Bank“ stellte, die sie vom Fenster aus sehen konnte. Das Draußen dringt in das Drinnen ein; das Gewebe der Raumzeit krümmt sich und öffnet sich zu einem Loch, in dem sich Energieschleifen bündeln. In Julie Beckers Zeichnungen vibriert das Fernsehsignal noch immer und die Sternenstaubreste, aus denen wir gemacht sind, glitzern in Spiegeln.

Wenn wir in Deutschland unsere Getränkeflaschen und Dosen in einen Leergutautomaten werfen, treten wir in einen Energiekreislauf ein, der hier als „Clean Loop Recycling“ bezeichnet wird. Eine der Fotografien aus Angharad Williams‘ Reihe „Origin nature destiny“ (2024) ist an die Wand seines Ateliers geklebt. Sie sieht aus wie ein Bullauge, das in den Korridor eines Raumschiffs hineinführt, wie ein Durchgang zu einem wichtigen und matrixartigen Ort. In Wirklichkeit handelt es sich um das Innere eines dieser Leergutautomaten, dieser Übertragungspunkte, an denen sich Material-, Finanz- und Informationsströme kreuzen und neu verteilt werden.

In einem ehemaligen in „Chess Club“ umbenannten Geschäftslokal in Hamburg lässt Amanda Weimer die galaktischen Horizonte und Himmelsmechaniken von Mimi Hope und die sozialen Einheiten von Tim Mann sichtbar werden. Vom Boden bis zur Decke vervielfachen sich Spiegel, vor denen unsere narzisstischen Körper fragmentiert werden und ihre Reflexionen treiben lassen. Diese Installation erfasst uns in der gleichen elliptischen Bewegung wie die glitzernden Spiralen, die ebenfalls in den Werken zu sehen sind. Wir befinden uns im Zentrum und an der Peripherie dieses Raums, dessen glamourös roter Teppichboden aus der Ferne betrachtet eine Pigmentierung aufweist, die der eines infizierten Hautgewebes ähnelt.

Die „People Going Up & Down“ in James Whittinghams Ausstellung im The Wig in Berlin sind Bastelautomaten aus Papier, die Oskar Schlemmers Diagrammen ähneln; ineinandergreifende Bewegungslinien auf ebenen Flächen.

Reisen, sich dissoziieren, das große Draußen in 4K erleben und dem sozialen Körper begegnen.

Matthias Groebel, Galerie DREI, Frieze London 2023, Courtesy Galerie DREI.

Wer hätte gedacht, dass Kathy Ackers Bibliothek eines Tages in einer deutschen Universität enden würde? Doch nun ruht Ackers radikaler und bissiger Schatz in einem kleinen, nüchternen, mit einem neutralen und unprätentiösen Teppichboden ausgelegten Raum der Universität zu Köln. Ihre kraftvolle Literatur, für die sie so viele Welten in sich aufgesogen hat, um ihre eigenen Welten zu errichten. Im Jahr 2015 wurde diese Sammlung von ihrem Testamentsvollstrecker Matias Viegener dem „English Department“ der Universität geschenkt. Der Transport aus Kalifornien verlief nicht ganz reibungslos: Einige Werke wurden auf der Reise durch Feuchtigkeit beschädigt und mussten restauriert werden. Im „Reading Room“ befinden sich heute ihre Bücher und Manuskripte, teilweise mit handschriftlichen Anmerkungen, aber auch Schallplatten, Kassetten, Briefe und persönliche Relikte. Hier stehen klassische, theoretische, experimentelle und transgressive Literatur nebeneinander, darunter Kriminalromane, erotische Pulp Fiction, viktorianische Pornografie und Science-Fiction. In den Regalen folgen die Bücher der Reihenfolge, in der sie sich ursprünglich in den Kartons befanden. Sie wurden von Daniel Schulz, dem Wächter dieses literarischen Heiligtums, inventarisiert. Darunter befinden sich seltene, mittlerweile vergriffene Ausgaben wie einige Romane von Dennis Cooper, die die grausamen Vorstellungen, an denen er zusammen mit Gisèle Vienne arbeitet, und ihre bevorstehende Ankunft in Berlin vorwegnehmen.

Dennis Coopers 1993 erschienenes Theaterstück „Jerk“ ist eine imaginäre Rekonstruktion der Geschichte von David Brooks, dem Mithelfer von Dean Corll, einem Serienmörder, der in den 1970er Jahren in Texas mehr als 20 Jungen tötete und folterte. Cooper inszeniert die Figur von David Brooks, der im Gefängnis über dieses blutige Werk eine Puppentheateraufführung zum Besten gibt. Er porträtiert einen Mann ohne Bezug zur Realität, der von seinem Wahn der extremen Gewalt mitgerissen wird und moralisch völlig untergeht. Der Mörder löscht die Identität seiner Opfer aus und reinkarniert ihre Leichen als fiktive Figuren und Fernsehstars. Aus diesem Text konzipierte Gisèle Vienne 2006 ein Hörspiel, dann ein Puppenspiel und schließlich einen Film, der 2021 gedreht wurde und im September auf dem Programm der Sophiensæle in Berlin stand.

Die szenische Einheit des Films konzentriert sich in einer hypnotischen Plansequenz auf den Oberkörper von Jonathan Capdevielle, der in der Mitte einer leeren Bühne sitzt. In einer völligen Dissoziation ist der Bauchredner gleichzeitig Puppentheater, Figur und Puppenspieler für drei Handpuppen. Durch diese miniaturisierten Körper und Handlungen wirft er uns in einen Tatort, der mit Blut und Lüsternheit besudelt ist, wo der Ton zum Bild wird und der Schleim das Sperma ersetzt. Dieses makabre Delirium erreicht derartige Höhen der Obszönität, dass es bitterlich spaßig wird. Die Subjektivität der Figuren wird verzerrt und löst sich dann in einem solchen Grad an Schizophrenie auf, dass man nicht mehr weiß, wer wen fickt, ob es der Serienmörder ist, der die Leiche fickt, oder der Bauchredner, der den Serienmörder fickt. Es entsteht eine Erfahrung des Doppelgängers, des Anderen, der dennoch mit dem Selbst übereinstimmt, was eine absolute Verwirrung der Identitäten erzeugt. Aber wie kann es in einer Zeit, in der wir die barbarischsten Gräueltaten der gegenwärtigen Kriege beobachten, legitim sein, sich ein gewisses ästhetisches Vergnügen an einem solchen sadistischen Spektakel zu erlauben? Besteht nicht die Gefahr, dass die Betrachtung von Grausamkeiten den Wunsch hervorruft, diese nachzuahmen? Dieses moralische Dilemma ist aufgrund seiner Unlösbarkeit unbequem. Zwar gibt es keinen Ausweg aus diesem Unbehagen, aber dennoch konfrontiert es das bürgerliche Publikum mit niederträchtigen Figuren, zu deren Komplizen es wird, mit diesen Monstern, die unsere Gesellschaft erzeugt und die uns von innen heraus zerstören.

Während des Kalten Krieges war West-Berlin eine Hochburg des US-amerikanischen Kapitalismus und ein Ankerpunkt für die bürgerlichen und neoliberalen Werte der Bundesrepublik Deutschland. Hier liegen die Ortsteile Zehlendorf und Dahlem mit neoklassizistischen und neogotischen Villen, in denen Botschaften, Fakultäten und Militärgebäude untergebracht sind, in einem sehr sauberen Ambiente, das von modernistischen Gebäuden unterbrochen wird. Genau in diesem Teil der Stadt finden die Ausstellungen von Gisèle Vienne und Calla Henkel & Max Pitegoff statt. Man muss sagen, dass diese Ausstellungen, die den Einfluss des Neoliberalismus auf die Körper thematisieren, gut in diese ehemals abgeschottete Wirtschaftszone passen. Im Haus am Waldsee, einer Villa mit idyllischer Umgebung, zeigt Gisèle Vienne „This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“. Nicht weit davon entfernt wird „THEATER“ von Calla Henkel & Max Pitegoff im dunklen Fluentum ausgestellt, einem massiven und hochspießigen Gebäude, das zuerst von der Luftwaffe und dann von der US-Armee besetzt wurde und aus einem schwarzen, von elektrisch weißen Adern durchzogenen Marmor besteht. Die Praktiken dieser Künstler:innen unterscheiden sich voneinander, aber sie drücken einen gemeinsamen Wunsch aus, sich mit dem eigenen Körper und dem des Kollektivs zu synchronisieren und dem durch die Perversität der sozialen Beziehungen hervorgerufenen Zerfall zu widerstehen.

Seit dem Mauerfall hat Berlin einen Umbruch erlebt, der vom Triumph der Marktwirtschaft geprägt ist. Und selbstverständlich sind Künstler:innengemeinschaften wie die von Henkel & Pitegoff Teil dieser wirtschaftlichen Umstrukturierung. Seit ihrem Studium an der Cooper Union haben sich die beiden damit beschäftigt, verschiedene Orte zu Bars umzufunktionieren, angefangen mit ihren Studentenwohnungen in Berlin und New York. Im Jahr 2011 betrieben sie die Times Bar in Berlin. Dann eröffnete 2013 das New Theater in einem Schaufenster in Berlin-Kreuzberg. 2019 folgte die TV Bar im Ortsteil Schöneberg. Indem sie Bars betrieben, die voll von Kunstschaffenden aus dem Ausland waren, sahen sie sich mit dem Paradoxon konfrontiert, dass sie den Prozess der Gentrifizierung befeuerten. Diese Sorge ist in ihren Werken latent vorhanden, wie in „Apartment III“ (2014), einer Auswahl von Ansichten von Berliner Wohnräumen, deren ultra-standardisierte und entpersonalisierte Dekoration den Standards der Airbnb-Apartments entspricht, die in der Stadt immer mehr werden. Auf die Nostalgie der ehemaligen DDR, die die Künstlerin Henrike Naumann durch kitschige Retro-Möbel aus den 90er Jahren zum Ausdruck bringt, folgt die unternehmerische Ideologie seelenloser, entmenschlichter Wohnungen, die im Dienste der kollaborativen Wirtschaft der Vermietungsplattformen stehen. Eine vermeintliche Neutralität, die ebenso viele ideologische Botschaften vermittelt.

Calla Henkel & Max Pitegoff, New Theater Hollywood, Bild: Calla Henkel and Max Pitegoff.

Aufgrund ihres gemeinschaftlichen Charakters bildete die Bar gleichzeitig den Ursprungsort, die Bühne und einen der Protagonisten der Erzählungen von Henkel & Pitegoff. Aus den in ihrem „Gossipy Scrapbook“ gesammelten Gesprächen schufen sie fiktionale Stücke. Seit Anfang des Jahres ist das Künstlerpaar jedoch in einem richtigen Theater untergebracht, dem New Theater Hollywood in Los Angeles. Dort setzen sie sich weiterhin für ein Amateurtheater unter Freund:innen ein und laden jede/n ein, seine/ihre eigene Rolle zu spielen. Der Stummfilm „THEATER“, der im Fluentum zu sehen ist, wurde in diesem neuen Raum gedreht. Der Film zeigt, wie Kennedy, die von Leilah Weinraub gespielt wird, davon träumt, ein Ensemble zu gründen. Mit dem Geld, das sie nach einem Autounfall von ihrer Versicherung erhalten hat, kann sie ein Theater kaufen, ist aber aus finanziellen Gründen gezwungen, vor Ort zu leben und es gleichzeitig an andere Künstler:innen zu vermieten. Dort stellt sie fest, dass ihr Theater durch eine Mauer in zwei Hälften geteilt wurde und sich auf der anderen Seite ein weiteres, identisches Theater befindet, in dem Performer:innen rund um die Uhr an einem Online-Kurs teilnehmen. Sie schaut gebannt auf den Bildschirm und gibt sich dieser Reality-Show hin, in der ein guruähnlicher Lehrer ein Klima der Gewalt, des Verlangens und der gegenseitigen Ausbeutung unter den Lernenden schafft. Wie so oft in den Werken dieses Künstlerduos zeigt auch dieser Film die materiellen Lebens- und Schaffensbedingungen von Künstler:innen, die mit Vertreibung und wirtschaftlichen und moralischen Dilemmas konfrontiert sind. In einer Kulisse aus Spiegeln und glitzernden Metallgirlanden, die das analoge Bild samtig machen, erhält diese düstere Geschichte einen melancholischen und burlesken Unterton. Der camphafte Humor des Textes und die schillernde Textur der 16-mm-Photographie mildern die Erzählung ab. Diese altmodische Ästhetik will möglicherweise die Nostalgie und die Künstlichkeit der Traumfabrik Hollywood in Szene setzen, die Kenneth Anger als „künstlich-schäbige Stadt“ bezeichnet.

Das Auto und das Theater haben mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint: Bewegungen, Licht, Dialoge und Richtungen. Beide sind auch Orte, an denen ein Casting beginnen kann, wie im Fall von Kennedy als Fahrerin derjenigen, die ihre Darsteller:innen werden sollen. Dann braucht es nicht viel, um eine Bühne zu bilden: ein Mikrofon und einen Lautsprecher, ein Podest oder ein paar Stühle. All das hat Kennedy in ihrem Kofferraum immer griffbereit, wenn es nötig ist. Es handelt sich um recht einfache Protokolle, die in der öffentlichen Rede an der Kreuzung der Boulevards in Los Angeles Widerhall finden. Mit oder ohne Mikrofon erobern junge, in „Guerilla Readings“ organisierte Künstler:innen und Schriftsteller:innen den öffentlichen Raum dieser Stadt zurück, die ihnen besonders feindlich gegenübersteht. Bis zu einem bestimmten Alter scheint man mit Mythen und Worten noch durchkommen zu können, wenn das Geld fehlt.

„The town was one giant audition.[1]

Installationsansicht, Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play, Haus am Waldsee, 2024, Bild: Frank Sperling.

Berlin ist auch die Heimat des expressionistischen Theaters und des Theaters der Angst, das als Kulisse für Gisèle Viennes Puppen dient. Jene, die im Haus am Waldsee ausgestellt werden, sind in verschiedenen Totenhaltungen erstarrt, gefangen in der Stasis ihrer steifen Körper, mal als Liegefiguren, mal als Leichen im Sarg. Hier gibt es keine Emotionen, keinen Horizont – alles ist gedämpft. Man ertappt sich dabei, andere Besucher:innen anzusprechen, weil sie sich bewegen, obwohl man sie für Puppen gehalten hätte. Man sagt: „Sie haben mich erschreckt“, „Tut mir leid“, „Nein, es ist meine Schuld, ich fühle mich manchmal selbst wie eine Puppe“. Man entflieht dem Körper und wird zum Komplizen einer Gewalt, die einen hilflos zurücklässt. Das melancholische Weiß der Puppen ähnelt dem der schweren Tischdecken in bürgerlichen Cafés, wo die Gespräche leise geführt werden, als müsse ein Geheimnis verschwiegen werden, und wo die Worte durch scharfes Besteck und laute breite Teekannendeckel zerhackt werden. Diese geschwungenen Kannen aus Chrom sind ideal, um das Kommen und Gehen zu beobachten, ohne dass ein direkter Blick zwischen Gästen und Kellner:innen ausgetauscht wird. Angharad Williams hat übrigens ein Werk zu diesem Thema geschaffen. In der Ausstellung von Gisèle Vienne öffnen sich die Vorhänge unseres normativen Gesellschaftstheaters und geben den Blick auf ernste und groteske Puppen frei, die, wenn sie könnten, vielleicht in diese Cafés gehen würden, die rund wie Galopprennbahnen sind, um sich in die Luft zu sprengen, um sich dem Genuss hinzugeben, zu weinen und alles durcheinander zu bringen[2]. Nichts ist ernster als eine Kinderzeichnung.

Aber was haben uns diese stets weißen, schlanken und ewig jungen Gestalten zu sagen? Die Philosophin Elsa Dorlin verbindet dieses matte Weiß mit dem der heteropatriarchalen Gewalt, ohne dabei diese Symbole in einer eindeutigen Interpretation im Hinblick auf den weißen Imperialismus zu verfestigen. Die nachdrückliche Präsenz dieser stereotypen Körper mit ihrem hohen mimetischen Potenzial wirft dennoch Fragen über die Auswirkungen der Reproduktion von westlichen machistischen Normen auf. Besteht nicht die Gefahr, dass die Idealisierung einer einzigen Körperform und einer einzigen ethnischen Identität auf Kosten der Vielfalt bestehende Wahrnehmungshierarchien legitimiert? Die Frage bleibt offen, aber ich glaube, dass ihre Bedeutung am stärksten zum Tragen kommt, wenn sie sich an weiße bürgerliche Besucher:innen richtet. Diese Besucher:innen waren noch vor Viennes Ausstellungen Zeugen der Erotisierung junger Körper. Diese entkörperten Figuren ohne Biografie und Innerlichkeit veranschaulichen die grausamen Folgen eines objektivierenden Blicks. Dieser Blick drängt reale Körper in die Anpassung an eine standardisierte Vorstellungswelt und in die Beschränkung ihrer Psychologie auf eine geschminkte Oberfläche. Offensichtlich erheben sich Viennes Puppen zu Märtyrern und tragen die Kritik an einem System in sich, das ein Schönheitsideal als Unterdrückungsinstrument aufzwingt. So richtet sie die Grausamkeit des Blicks, der entmenschlicht und tötet, an uns. Denn wie sie sagt: „Die Liebe des Pygmalion ist eine Aggression[3]“. Dem katatonischen Zustand ihrer Puppen stehen die Diskussionen gegenüber, die sie im CN D – Centre National de la Danse – in Pantin initiiert hat. Seit 2021 findet dort das Seminar „Travailler la violence“ von Elsa Dorlin statt, die Gisèle Vienne dazu eingeladen hat, kollektive Neuschreibungen der vergangenen und laufenden Geschichte zu sammeln, mit dem Ziel, die Erinnerungskultur der Kämpfe zu teilen. Und dies in einem Rahmen, der für die „Neucodierung der Wahrnehmungen“, wie sie es nennt, viel günstiger zu sein scheint.

Installationsansicht, Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play, Haus am Waldsee, 2024, Bild: Frank Sperling.

[1] Aus dem Film „THEATER“, Calla Henkel und Max Pitegoff, 2024.

[2] Romain, der Teenager in Dennis Coopers Film „Permanent Green Light“ (2018), verspürt auch diesen dringenden Wunsch, sich in die Luft zu sprengen, weniger um zu sterben als um Ekstase zu erreichen.

[3] Gisèle Vienne in Elsa Dorlin (éd.) Feu ! Abécédaire des féminismes présents, Libertalia, 2021.

ANDREANNE BEGUIN – VOM NOTGELD ZUR BLOCKCHAIN

Andréanne Béguin ist eine junge Kuratorin und Kunstkritikerin, die 2024 für das Reise- und Forschungsstipendium in Deutschland ausgewählt wurde. Im Rahmen dieses Programms verfasste sie den kuratorischen Text „Vom Notgeld zur Blockchain“ (2024), der das Ergebnis ihrer Recherchen während ihrer Besuche in Frankfurt, Berlin und Hamburg ist.

Kohle, Peseten, Koks, Mammon, Bims, Asche, Mäuse, Heu, Flocken … Umgangssprachlich gibt es unzählige Bezeichnungen für Geld. Diese Fülle an Bezeichnungen spiegelt die Bedeutung des Geldes in unserem Alltag wider, von seinen intimsten Vorkommen bis hin zu seinen öffentlichen und politischen Erscheinungsformen. Um es mit den Worten des Schriftstellers Thomas Baumgartner zu sagen, der gerade das Buch „L‘argent des gens, tentative d‘épuisement de nos porte-monnaie“ („Das Geld der Menschen – ein Versuch, unsere Geldbörsen zu erschöpfen“) veröffentlicht hat: „Das Geld macht unseren Alltag aus, fabriziert ihn, erzwingt ihn, gestaltet ihn. Es gibt ein absolutes Paradoxon zwischen Omnipräsenz und Vergänglichkeit“ (S. 9). Während dieser Autor sich im Gegensatz zu einer philosophisch-finanzorientierten Studie dafür entscheidet, das Geld durch individuelle Aussagen und Erzählungen zu porträtieren, ging es bei meinem Forschungsaufenthalt in Deutschland nicht darum, den Code des Überbaus des Kapitalismus zu knacken, sondern mit bescheidenerer Absicht darum, das Geld in seiner Dualität zu erfassen, sowohl als Sujet als auch als künstlerisches Medium.

Kunst und Kohle. Die Homophonie mag ein Lächeln hervorrufen, ein wissendes Lächeln, da es allgemein bekannt ist, dass diese beiden Wörter die zwei Seiten ein und derselben Münze sind. Einerseits macht der Kunstmarkt mit seinen Exzessen und horrenden Summen immer wieder Schlagzeilen, hinterlässt einen bleibenden Eindruck, fasziniert die einen und schreckt die anderen ab. Andererseits ist die prekäre Wirtschaftslage von Künstler:innen eine weniger glanzvolle Realität, für die die Legislative trotz des im Februar 2022 vorgelegten Gesetzentwurfs für „eine Einkommenskontinuität für Kunstschaffende“ immer noch taub ist. Die Verknüpfung dieser beiden Seiten ist hier offensichtlich und notwendig, da sie es ermöglicht, eine Architektur der wirtschaftlichen und sozialen Werte, der beruflichen und strukturellen Realitäten zu entwickeln. Doch wenn es unbestreitbar ist, dass Kunst einen Geldwert hat, wie steht es dann um den künstlerischen Wert des Geldes? Welche plastischen Qualitäten besitzt es? Welche erzählerischen Möglichkeiten? Welche Ikonografie trägt es mit sich? Ist es eine Ikonografie wie jede andere? Ohne Ausführlichkeit oder Wahrhaftigkeit anzustreben, begebe ich mich hier in einer Kombination aus Atelierbesuchen und Treffen mit Historikerinnen auf eine kuratorische Wanderung durch Deutschland, die diesem grünen Faden folgt.

Im Historischen Museum Frankfurt werden über 150.000 Münzen auf Dutzenden von laufenden Metern an Vitrinen aufbewahrt. Sie bieten einen geschichtlichen Überblick von den griechischen und römischen Zivilisationen über die Einführung des Pfennigs durch Karl den Großen bis hin zur Einführung des Euro. Die überwiegend runden Münzen variieren in Motiv und Material und ermöglichen es, diese Gesellschaftsfragmente in Zeit und Raum zu verorten. Weiter hinten hängt eine Tafel, die sich mit einer der ersten Finanzkrisen befasst: der Kipper- und Wipperzeit (1618-1648). Die Münzenentwertung zur Finanzierung des Dreißigjährigen Krieges führte zur Prägung von Metallmünzen mit immer geringerem Wert. Die Menschen zerschnitten und schliffen die Münzen mit den wertvolleren Metallen und mischten die verbleibende Seite mit weniger seltenen Metallen. Auch heute noch ist die Materialität des Geldes im globalisierten und allumfassenden Finanzsystem von Bedeutung. Özlem Günyol & Mustafa Kunt griffen diese Materialität auf und schufen ihre Serie mit dem vielsagenden Namen „Materialistic Paintings“, die auf Wertschwankungen und andere metallurgische Hybridisierungen im 17. Jahrhundert anspielt. Die 2018 begonnene Serie ist vom Minimalismus Josef Albers‘ und seinen Quadraten inspiriert und stellt eine malerische Umsetzung von Münzen der Währungen dar, die weltweit am häufigsten gehandelt werden, wie der US-Dollar, der Euro, das Pfund Sterling und der japanische Yen. Die in den Münzen enthaltenen Metalle werden in Pulverform auf Flächen aufgetragen, die proportional zu den in jeder Münze enthaltenen Mengen sind. Kupfer, Messing, Nickel, Zink etc. stellen alle ihre chromatischen Variationen zur Schau. Die Währung wird hier nach ihren chemischen Eigenschaften dargestellt und somit abstrahiert. Dennoch werden die länderspezifischen Bodenschätze sichtbar gemacht, und die Währungshierarchie, die bei internationalen Umrechnungen gilt, wird durch eine bemalte Oberfläche veranschaulicht.

Özlem Günyol & Mustafa Kunt, Materialistic Paintings, 2018 – laufende Serie. Metallpulver, Hahnemühle-Büttenpapier 300 g/m², 76×82 cm. Euro, 10 Cent. %89 Cu, %5 Al, %5 Zn, %1 Sn. Foto: Katrin Binner.

Neben der Materialität zeigt die numismatische Sammlung des Historischen Museums Frankfurt auch eine große Vielfalt an Darstellungen, die auf Münzen geprägt wurden. Adler, Löwen, Porträts, Symbole … Eine ganze Ikonografie, durch die das Geld nicht nur als Zahlungsmittel, sondern auch als Kommunikationsmedium erscheint. Pablo Schlumberger näherte sich der starken Botschaft des Geldes mit einem spielerischen Ansatz. Anlässlich eines Performance-Abends, der 2018 in der Klosterruine Berlin stattfand, schuf der Künstler sechs Münzen, die anhand von 3D-Modellen aus Silber gegossen wurden und jeweils einer der gezeigten Performances entsprachen. Im Anschluss daran beauftragte er die Numismatik-Forscherin Ulrike Peter mit der Deutung dieser sechs Münzen. Ihre Analyse wurde 2023 in einer der Publikationen des Künstlers veröffentlicht. Die Spekulation richtet sich hier nicht auf den Wert des Gegenstands, sondern wird auf das Gebiet der Bedeutung, der Symbolik gelenkt. Geld als Darstellungsmedium weckt Vermutungen, Phantasie, mentale und sensible Projektionen.

Ausgehend von „Euro Manikin“, einer anthropomorphen Skulptur aus 1€-Münzen – die inzwischen auf mysteriöse Weise verschwunden ist – schuf Pablo Schlumberger eine Reihe von Zeichnungen und Fotografien, die diese rätselhafte Figur in Szene setzen. Der Künstler versetzt uns in eine andere Form der Rationalität, zugleich schelmisch und humorvoll, in der das Geld personifiziert wird. In den Brunnen von Rom oder Neapel scheint es unabhängig von uns seine eigenen Abenteuer zu erleben – was das Geld schließlich auch in der dematerialisierten Finanzwelt sehr gut kann …

Pablo Schlumberger, TOTAL REFUND 13, Tinte auf farbigem Papier, 29,7 x 21 cm, 2019. Foto: Robert Schlossnickel.

In der Hamburger Kunsthalle gehört die Münzen-, Medaillen- und Plakettensammlung zur Skulpturenabteilung, da die Sammlung darauf abzielt, den künstlerischen Wert der Münzen, die Arbeit der Goldschmiede und die Resonanzen mit anderen Werken in den Vordergrund zu stellen. Einer der historischen Kuratoren bezeichnete die Münzsammlung als eine Galerie von Miniaturporträts. Nicht die gesamte Sammlung ist ausgestellt, sie nimmt einen einzigen Raum im Rundgang ein, und dort entdecke ich in einer Vitrine eine – nicht flach, sondern schräg gezeigte – Münze, die außergewöhnlich dünn ist. Durch eine materielle Assoziation entsteht eine Verbindung zur Kunst von Rosa Lüders, die ausschließlich mit Aluminiumfolie arbeitet. Ihre Inspirationsquellen sind vielfältig und umfassen griechische Votivikonen auf weichem Metall ebenso wie Geldspielhallen oder die von der Deutschen Demokratischen Republik geprägten Münzen. In ihnen verschränken sich die Begriffe Glauben, Werte, Wetten und Gewinn miteinander. Anstelle der Eulen und Pferde, die in der Kunsthalle zu sehen sind, gibt Rosa Lüders dem Aluminium die Form von Kirschen, Flammen und Zitronen. Eine moderne Bildsprache, die direkt aus den Spielautomaten stammt, die schnelles Geld versprechen. Ebenso wie ihr reflektierendes Material spielt die Künstlerin mit der Verblendungskraft und dem Spiegeleffekt des Geldes.

Rosa Lüders, Sizzling Hot, 2023 ; 330 x 300 x 30 cm ; Aluminium, Tinten-Mineral.

Auch Rosanna Marie Pondorf arbeitet mit einer hochmodernen Bildsprache, den Emojis. Auf Wertschöpfungspapier, das aus entwerteten Euro-Banknoten hergestellt wird, druckt sie einige dieser Emojis, um auf deren geopolitische Implikationen hinzuweisen. Beispielsweise lautet das Motto der Münze der Emoji-Sprache, die einen amerikanischen Adler darstellt, „The Crazy One“. Ein weiteres Beispiel: US-Dollar haben kleine Flügel. Obwohl Emojis witzig und skurril sind und zu einem alltäglichen Kommunikationsmittel geworden sind, bleiben sie dennoch ein bedeutungsvolles Instrument im Dienste der US-amerikanischen Softpower und der herrschenden kapitalistischen Ideologie. Indem die Künstlerin wertloses Geld in Papier und scheinbar harmlose Emojis in Totems verwandelt, kehrt sie die Wahrnehmung um und äußert eine Kritik an den wirtschaftlichen Interessen der Kontrolle über die digitale Sprache.

Rosanna Marie Pondorf, Wertschöpfungspapier [flying money], 2023, Tintenstrahldruck auf handgeschöpftem Papier aus entwerteten Euronoten, Spreizstange, Nippelklemmen, Karabinerhaken, Augbolzen, 44 x 29,5 cm.

Von den Münzen geht es zu den Banknoten, die im 17. Jahrhundert regelmäßig von den Zentralbanken der europäischen Staaten ausgegeben wurden. Der Wert der Geld-Einheit wurde vervielfacht, da er nicht mehr an die Materialität und die metallurgische Zusammensetzung des Trägers gebunden war, sondern an ein System des Glaubens und des Vertrauens. Wir glauben, dass ein Rechteck aus Papier 100 Dollar wert ist. Und das glauben wir schon lange. Es kommt vor, dass dieser Glaube ins Stocken gerät. Die deutsche Geschichte war von diesem Misstrauen gegenüber dem Papierwert geprägt. Am Ende des Ersten Weltkriegs, ab 1916-1917, brach der Wert der Reichsmark ein. In meinen deutschen Schulbüchern wurde gezeigt, wie die Kinder in der Weimarer Republik Drachen aus Geldscheinen bastelten, während ihre Eltern mit Schubkarren voller Mark einkaufen gingen. Die Behörden waren schnell überfordert und erlaubten die Ausgabe von sogenanntem Notgeld. Es wurde von Stadtverwaltungen, Unternehmen und Regionalbanken ausgegeben und sollte die Mark während der Krise ersetzen. Um es attraktiv und ansprechend zu gestalten, wurden Künstler und Grafiker mit seinem Design beauftragt. Insgesamt wurden in dem betreffenden Zeitraum bis 1922 über 1.600 verschiedene Arten von Notgeld gedruckt und verbreitet.

In der Giesecke+Devrient Stiftung Geldscheinsammlung München hatte ich Zugang zu einer der bedeutendsten Sammlungen von Notgeld. Als ich es in den Händen hielt, konnte ich die verschiedenen Größen, Druckarten, Reliefs, Farben und Symbole wahrnehmen. Auf einigen Scheinen stehen Gedichte über die Krise – „Nach der Zeit des Papiers werden Silber und Gold zurückkehren“ –, auf anderen sind Esel abgebildet, die Banknoten defäkieren. Einige sind ernster und verweisen auf lokale volkstümliche Elemente wie Helden und Bauwerke. Jeder Schein spiegelt den Zeitgeist wider und gestaltet durch die Einführung von künstlerischen Formen das Glaubenssystem um. Tom Wilkinson untersucht in einem aufschlussreichen Essay1 die künstlerischen Implikationen und Beiträge des Notgeldes und beschreibt die verschiedenen verwendeten Darstellungen. Was mich betrifft, so war ich von der Fülle des Bestiariums beeindruckt: Ziegen, Löwen, Hunde, Drachen, Fische, Vögel … Eine Tradition der Ikonografie, die, wie man sieht, weit zurückreicht. Dem steht Jana Eulers Malerei in nichts nach. Ihre gesamte Kunst beruht auf der Kritik an Kapitalflüssen und Finanzzahlen, und auf ihren Gemälden finden sich chimärische Tiere, Delfine, Haie, Pferde und sogar eine inflationäre Version des Einhorns, das sogenannte „Morecorn“2.

Inflation als Inspirationsquelle. Genau in diese Meta-Anomalie führt uns Michael Riedel. Der Künstler wurde zunächst 2017 vom Geldmuseum der Deutschen Bundesbank in Frankfurt eingeladen, wo er anhand des gesamten E-Mail-Verkehrs mit seinem damaligen Galeristen den Riedels schuf, eine Währung, die nur in Form von Scheinen existiert. Es entstanden 43 Designs auf Banknoten von 5 bis 500 Riedels. Anschließend wurde ein ganzes Transaktionssystem eingerichtet. In seinen Ausstellungen gab es Automaten, an denen man Geld gegen Riedels umtauschen konnte. Dann wurde eine neue Serie herausgegeben und die inflationäre Form der Riedels wurde eingeführt. Manchmal konnten Rubbellose gekauft und „Inflation Riedels“ gewonnen werden, mit denen man wiederum ein Werk des Künstlers erwerben konnte. In diesem Fall dient das Geld nicht nur der Schaffung von Formen, sondern auch von Interaktionen, da das Publikum gewissermaßen an diesem Transaktionssystem „arbeitet“, das übliche Triebfedern nutzt: Gewinnsucht, Habgier, das „immer mehr“.

Michael Riedel, Riedels 25.000 (12), 2017. Offsetdruck auf Papier, Heißprägedruck, 12,6 x 20,5 cm. © Studio Michael Riedel

Während Michael Riedel sich in eine Bank und ein Geldsystem verwandelt hat, hat sich Niko Abramidis in ein Start-up-Unternehmen verwandelt. Das Vertrauen der Menschen in das Geld ist seiner Meinung nach von derselben Art wie das Vertrauen von Sammlern in einen Künstler. Wenn ein Künstler sich selbst Zeichnungen verkauft, nimmt er dann nicht eine Aufteilung seines Kapitals in Anleihen vor? So hat er in eine Reihe von Zeichnungen das neueste unter anderem durch Apple Pay generierte Chip-Zahlungssystem integriert. Der Künstler lässt uns auf einem Bündel 500-€-Scheine oder an einem typisch korporativen Besprechungstisch in den ehemaligen Räumen einer Investitionsbank sitzen. An der Grenze zur Dystopie erfindet er „Cryptic Machines“, esoterische Geldautomaten aus einer vielleicht nicht allzu fernen Zukunft, in der das kapitalistische System untergegangen ist und die Schlitze der Automaten weit geöffnet bleiben.

In einem Kontext des allgemeinen Misstrauens wurde in den 1920er Jahren das Notgeld eingeführt. Heutzutage, so Simon Denny, sind Kryptowährungen, NFTs und Blockchains „mächtige Alternativen zu den herrschenden Systemen des Fiat-Geldes, des Bankwesens und der Kunstproduktion, wie wir sie so lange kennen“3. Der Künstler und Kurator Simon Denny erforscht die Erfahrungen von Macht, ihre Ausdrucksmittel und ihre Vertreter in einfachen, nicht technologischen Formen wie Briefmarken oder Brettspielen. Als Leitfigur des kritischen Denkens über technologische alternative Währungen in der Kunst hat er zwei maßgebliche Ausstellungen konzipiert: Proof of Work im Jahr 2018 im Schinkel Pavillon und Proof of Stake im Jahr 2021 im Kunstverein in Hamburg. Beide versammelten verschiedene künstlerische Produktionen rund um Kryptowährungen und ihre politische, wirtschaftliche und erzählerische Realität. Geld nimmt immer dematerialisiertere Formen an, es wird immer geruchloser und flüchtiger, es beschwört immer tentakelhaftere Vorstellungswelten herauf. Als ich ein Kind war, sprang Onkel Dagobert (im Französischen „Picsou“) kopfüber in Pools voller Gold und Geldscheine. Heute ist CryptoPicsou das Pseudonym eines Händlers von Kryptowährungen.

Installationsansicht Proof of Work, Schinkel Pavillon, 2018. Enthält: CryptoKitties / Guile Twardowski, Celestial Cyber Dimension (Kitty .127), 2018. Foto: Hans-Georg Gaul.

1 https://journals.openedition.org/critiquedart/114597

2 Pauline Hatzigeorgiou, Jana Euler, Oilopa, Wiels, 21.06.-29.09.24

3 https://curamagazine.com/digital/simon-denny-art-and-crypto/