Chris Fitzpatricks Highlights der französischen Kunstszene

Chris Fitzpatrick, Direktor des Kunstverein München, hat seine Eindrücke während des FOCUS ARTS VISUELS-Programms* des Institut français in Frankreich mit uns geteilt:

Chris Fitzpatrick, Porträt, Courtesy Kunstverein München e.V., Foto: Margarita Platis

Chris Fitzpatrick, Porträt, Courtesy Kunstverein München e.V., Foto: Margarita Platis

Im Rahmen des FOCUS ARTS VISUELS-Programms habe ich erfahren, dass die Wahrscheinlichkeit einer Zusage bei einer Leihanfrage eines Werkes für eine Ausstellung bei den FRACs (Fonds régionaux d’art contemporain, öffentliche regionale Sammlungen zeitgenössischer bildender Kunst) bei 95% liegt. Angesichts dessen, dass zurzeit viele Museen weniger als 1% ihrer Sammlung präsentieren und immer mehr Privatsammlungen ihre eigenen Räumlichkeiten eröffnen, ist es interessant zu sehen, dass das FRAC-System die Absicht verfolgt, die jeweiligen Sammlungen zu vermehren und so weitläufig und häufig zu präsentieren wie nur möglich.

Ebenfalls habe ich erfahren, dass das FRAC-System – zumindest teilweise – dazu bestimmt ist, zur Dezentralisierung beizutragen und zu vermeiden, dass sich alles nur in Paris abspielt und verdichtet. Während unserer einwöchigen Recherchereise mit dem Institut français haben sich unter den verschiedenen Direktor*innen zu diesem Thema, das selbstverständlich auch ein politisches ist, auch unterschiedliche Meinungen herauskristallisiert. Dass sich das Institut français dieser Logik anzuschließen scheint, zeigt sich darin, dass wir nicht nur Pariser Institutionen wie das Palais de Tokyo (wo Neïl Beloufa uns durch die sich ständig verändernden Anordnungen seiner mechanistisch angelegten Ausstellung führte) oder die kürzlich eröffneten Lafayette Anticipations (wo Lutz Bachers kryptische Ausstellung die in Rem Koolhaas‘ Erweiterungsbauten vertikale Dominanz lateral zur Explosion bringt) besichtigten, um nur zwei Beispiele anzuführen.

Lutz Bacher: The Silence of the Sea, Ausstellungsansicht 2018, Lafayette Anticipations, Foto: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti

Lutz Bacher: The Silence of the Sea, Ausstellungsansicht 2018, Lafayette Anticipations, Foto: Delfino Sisto Legnani und Marco Cappelletti

Wir haben auch weniger zentrale Orte außerhalb von Paris wie Le Credac, das Centre Pompidou-Metz, das FRAC Bretagne oder La Criée in Rennes besichtigt. Nur schwer kann ich mir ein spannenderes Gebäudeensemble vorstellen als jenes, das ich während unseres Besuchs im Centre d’art contemporain – La synagogue de Delme gesehen habe. Trotz (oder gerade aufgrund) ihrer Distanz zum Hauptzentrum Paris bieten diese „suburbanen“ oder „regionalen“ Orte eine zumindest genauso interessante Programmierung an, wie wir sie in Paris gesehen haben.

Centre d'art contemporain la synagogue de Delme, Gue(ho)st House, Berdaguer & Péjus, 2012 © Adagp Paris 2012 / Berdaguer & Péjus, Foto: OHDancy photographe

Ein weiteres FRAC, das wir besichtigt haben, ist das FRAC Lorraine in Metz. Dort hat uns die neue Direktorin, zuvor künstlerische Leiterin des Künstlerhaus Bremen und davor Kuratorin im Bonner Kunstverein, Fanny Gonella empfangen. Nach dem Empfang haben wir noch einen Blick in You remind me of someone geworfen: ihre erste kuratierte Ausstellung im FRAC Lorraine und zugleich ihre letzte Ausstellung im Künstlerhaus Bremen*. Diese Neupräsentation hat gewissermaßen eine programmatische Überblendung ihrer beiden Positionen geschaffen und steht zugleich als Prolog eines neuen Kapitels der Institution wie Möglichkeit für Gonella, ihre neuen Räumlichkeiten kennenzulernen.

Jade Fourès Varnier und Vincent de Hoÿm, In Jeopardy, Temple of Jacent II, Pietà, 2018, Ausstellungsansicht, Production 49 Nord 6 Est - Frac Lorraine, Courtesy die Künstler, Foto: B. Mathia

Jade Fourès Varnier und Vincent de Hoÿm, In Jeopardy, Temple of Jacent II, Pietà, 2018, Ausstellungsansicht, Production 49 Nord 6 Est – Frac Lorraine, Courtesy die Künstler, Foto: B. Mathia

Ein guter Zug in Anbetracht dessen, dass die Ausstellung eine Reihe Werke zusammenbringt, die sich mit den Phänomenen der Wiederholung, Nachahmung, Ähnlichkeit, notwendiger Verknüpfungen, mit innerhalb von Werken, zwischen Werken oder zwischen Werken und deren Beobachter*innen wirkenden Similaritäten auseinandersetzen oder sie veranschaulichen. Als Ausgangspunkt der Ausstellung dient Gonella Jonathan Flatleys Vorstellung, dass Ähnlichkeit zu Empathie führe und das Fundament notwendiger Reziprozität allen emotionalen Austausches sei. Ich habe versucht darüber nachzudenken, während ich die auf den verschiedenen Ebenen des Hauses verteilten Porträts, anthropomorphisierten Objekte und Videoarbeiten angesehen habe.

Neben Flatley war Sanford Meisner eine weitere präsente Figur in der Ausstellung. Um Emotionen mit einem höheren Authentizitätsgehalt spontan hervorrufen zu können, entwickelte Meisner Schauspieltechniken, zu denen die unmittelbare Nachahmung, die Beobachtung und Reaktivität zwischen Schauspieler*innen gehören. Seine Methode ist auch heute noch sehr einflussreich und in ihrer 33-minütigen Mehrkanal-Videoinstallation Living Truthfully under Imaginary Circumstances beziehen sich die Künstler*innen Anja Kirschner und David Panos darauf. Wir sehen darin Bilder sich gegenübersitzender Schauspieler*innen, die abwechselnd Texte vortragen und von Zeit zu Zeit in die gegenüberliegende Rolle schlüpfen. Ihre frenetischen Darbietungen wirken dabei, als würden sie spontan erhaltene Textfragmente in Echtzeit vorsprechen und so lange wiederholen, bis sie glaubwürdig, ja bis sie real werden. Das ist spannend, aber auch ziemlich komisch.

Anja Kirschner und David Panos, Living Truthfully Under Imaginary Circumstances, 2011, Videoinstallation, Courtesy die Künstler*innen und Hollybush Gardens

Anja Kirschner und David Panos, Living Truthfully Under Imaginary Circumstances, 2011, Videoinstallation, Courtesy die Künstler*innen und Hollybush Gardens

Laut Gonella handelt die Ausstellung auch von der gegenwärtigen, täglich ansteigenden Bilderflut. Dies ist eine umfangreiche und viel zitierte Thematik, die oftmals zu Diskussionen über künstliche Intelligenz – wie ist Lernen mit einem Denken, das seinerseits von den Subjektivitäten seines Programmierers beeinflusst ist, möglich –, computerbasierte Gesichtserkennung oder Zeichenerkennungssysteme und eine Unzahl weiterer Themen führt, welche die Frage, wie Bilder und ihre Verbreitung unser Leben beeinflussen, aufwirft. Nicht dieser Zugang war für mich in der Werkauswahl offensichtlich, aber die der Produktion und Distribution von Bildern in den Social Media implizite performative Selbstkontextualisierung und Selbstpositionierung war stark präsent.

Als solche wirft die Ausstellung eine spannende Frage auf: Sind Schauspieler*innen – seien es ausgebildete oder Amateure – Meister*innen der Empathie und Identifikation oder aber der Manipulation unserer Empathie, die sie gekonnt einsetzen? Das ist besonders interessant hinsichtlich der Machtfrage und der Notwendigkeit, Assimilation und Konformität durchzusetzen und gleichzeitig Ungleichheit und Differenz sicherzustellen (oder bestimmte Unterschiede zu absorbieren und zu normalisieren).

Neïl Beloufa: The enemy of my enemy, Palais de Tokyo, Ausstellungsansicht 2018, Courtesy der Künstler und Balice Hertling Gallery (Paris), Foto: Aurélien Mole © ADAGP, Paris 2018

Und dies, denk ich, bringt uns dann auch wieder zu unserer Recherchereise zurück, bei der es darum geht, Menschen außerhalb von Frankreich nach Frankreich zu bringen, in der Hoffnung, dass sich Partnerschaften und neu Möglichkeiten entwickeln. Heutzutage ist es sehr einfach, Ansichten von Arbeiten französischer Künstler*innen zu konsumieren oder die Programmierungen französischer Institutionen aus der Ferne zu verfolgen, aber es ist nicht das gleich, wie dort zu sein, Face-to-Face.

Chris Fitzpatrick

Chris Fitzpatrick ist Direktor des Kunstverein München. 2012 bis 2015 war er Direktor von Objectif Exhibitions in Antwerpen. Fritzpatrick hat unzählige Ausstellungen in Belgien, Canada, China, Estland, Deutschland, Italien, Lithauen, Mexiko und den USA kuratiert, darunter den San Francisco Pavillon bei der 9. Shanghai Biennale. Seine Schriften und Interviews wurden bei Art Papers, Baltic Notebooks of Anthony Blunt, Cura, Fillip, Mousse, Nero, Spike Art Quarterly, Stationary und weiteren Publikationen und Büchern veröffentlicht.

* Programm für ausländische Kurator*innen, um die französische Kunstszene vorort kennenzulernen und zu vertiefen
* Die Ausstellung „Wie werden wir uns wiedererkennen“ (18. November 2017 – 28. Januar 2018 im Künstlerhaus Bremen) wurde durch das Bureau des arts plastiques des Institut français Deutschland unterstützt