Text verfasst von Lou Ferrand im Rahmen des Stipendiums
Reise- und Forschungsstipendium
JEUNES COMMISSAIRES 2022
„Bibliotheken, die mehr sind als nur Bücher,
in Gebäuden, die mehr sind als nur Steine.“
Rachel Dedman
2014 wurde der amerikanische Verlag Semiotext(e) eingeladen, einen künstlerischen Beitrag für die Whitney-Biennale einzureichen, und präsentierte zu diesem Anlass eine vom Künstler Jason Yates entworfene Installation, in deren Inneren es möglich war, Einsicht in 28 veröffentlichte Schmähschriften von Autor*innen des Verlags wie etwa Franco „Bifo“ Berardi, Chris Kraus, Eileen Myles, Abdellah Taïa oder auch Simone Weil und Jean Baudrillard zu erhalten. Einen Verlag, dessen Veröffentlichungen im Fall von Semiotext(e) eine Bandbreite von experimenteller feministischer Literatur bis hin zu philosophischen Werken oder Kampfschriften abdecken, zu einer normalerweise den Beiträgen von Künstler*innen vorbehaltenen Biennale einzuladen, war kein unüberlegter Schachzug des Kurators Stuart Comer. Wie sich zeigte, lud der von Semiotext(e) eingerichtete reading room die Besucher*innen dazu ein, sich hinzusetzen und die zu Kunstwerken erhobenen Bücher zu berühren sowie mit ihnen zu interagieren, und das in einem musealen Raum, wo solche Handlungen üblicherweise untersagt sind. Diese Einladung hat die Frage nach der Ästhetik der physischen Begegnung mit der Immaterialität des Textes sowie nach der kuratorischen Vermittlung dieser Begegnung und den Verbindungen zwischen Literatur und Plastizität aufgeworfen. Ebenso wie die vielleicht noch politischere Frage des Verstehens der Art und Weise, wie Literatur ein gemeinsames und lebendiges Gut werden kann, das gleichzeitig mehreren die Möglichkeit bietet, sich mit ihm zu beschäftigen, fernab der Stille und Individuation der institutionellen Bibliotheken, die mitunter panoptische und von Disziplin geprägte Räume sein können.
Abb. 1: Ansicht der Installation „Semiotext(e): New Series“ (2014) von Semiotext(e), Whitney-Biennale 2014, Whitney Museum of American Art, New York (Sammlung von Semiotext(e), Foto von Bill Orcutt)
Fast ein Jahrzehnt später hat ruangrupa, ein indonesisches Kollektiv, das mit der künstlerischen Leitung der 15. Ausgabe der documenta betraut wurde, dieses Bestreben, die verlegerische Produktion in die künstlerischen Beiträge einzubeziehen, wieder aufgenommen, indem es mehrere Gruppen eingeladen hat, die in den Bereichen Archiv und Publikation tätig sind, und beispielsweise mit „lumbung of publishers“ ein informelles Netzwerk zum Teilen von Ressourcen geschaffen hat. Die documenta fifteen wurde bewusst nicht rund um einen thematischen Schwerpunkt konzipiert, sondern vielmehr als eine Beobachtung der aktuellen Methoden der Zusammenarbeit, der Selbstorganisation, der Verfahren, des kritischen Lernens, des Experimentierens und der gemeinsamen Nutzung, die insbesondere für eine nicht westliche, antiimperialistische und dekoloniale Lesart der Welt eintritt. Bei dem Bemühen, die vorherrschenden Narrative neu zu betrachten oder zu interpretieren, sie zu verzerren oder zu demontieren, ist es interessant, insbesondere die mit dem Medium Buch verbundenen Beiträge dieser documenta zu betrachten. Auf diese Weise lässt sich hinterfragen, wie bestimmte Leerstellen ausgefüllt, gewisse Stimmen verstärkt und neue Genealogien, ob nun mit einem höchst kritischen Ansatz oder aus einem Wunsch nach Wiedergutmachung heraus, vorgeschlagen werden können. Denn auch wenn der Aufbau einer Bibliothek eine der ältesten Handlungen überhaupt darstellt – einer Art aussichtslosem Plan folgend, die Wissensschätze der Welt, oder zumindest einer Welt, zusammenzutragen und zu klassifizieren –, muss man doch festhalten, dass die Bibliothek zur Fortsetzung einer offiziellen und vorherrschenden Geschichtsschreibung werden oder, im Gegenteil dazu, ein subversiveres und militanteres Narrativ anbieten kann. So muss jede Bibliothek anhand der mal mehr und mal weniger gut und manchmal gar nicht gefüllten Reihen ihrer Bestände bewertet werden, wobei das Fehlende eventuell genauso aussagekräftig sein kann wie das Vorhandene. Wie Laura Larson schreibt, ist „die Bibliothek, wie jede hierarchische Struktur, ein verletzlicher Ort, der jederzeit durchbrochen, zerschlagen und wiederaufgebaut werden kann[1]“.
Nicht zuletzt hat ruangrupa das Kollektiv Fehras Publishing Practices eingeladen, das an einer neuen künstlerischen Geschichtsschreibung arbeitet, die durch die arabischsprachige Verlagsproduktion über mehrere geographische Gebiete (zwischen Mittelmeerraum, Nordafrika und arabischer Diaspora) hinweg hervorgebracht wurde. Fehras wurde 2015 in Berlin gegründet und hat sich auf der Grundlage verschiedener Medien wie dem Archiv, dem Buch, aber auch der Bibliothek mit Fragen zu Identität, Gender, Migration und Herrschaftsverhältnissen beschäftigt. Im Rahmen des Projekts Series of Disappearances befasst sich das Kollektiv zum Beispiel mit den persönlichen Bibliotheken verschiedener Intellektueller, Autor*innen und Verleger*innen und beobachtet dabei, welchen Mechanismen der Verlagerung, der Umsiedlung, der Kontextualisierung und des Verschwindens die jeweiligen Bestände unterliegen. In der Arbeit von Fehras erscheinen das Buch und die Bibliothek als Pulsmesser einer Welt in ständigem Wandel, als offene Orte für Ideologien, Konflikte und Hegemonien, aber auch als Netzwerke oder Übertragungswege für Kooperationen, Liebe und Widerstand. Für die documenta hat das Kollektiv mit Borrowed Faces die Form des Fotoromans gewählt, einem typischen Genre der Zeit des Kalten Krieges, die das Projekt aus dem Blickwinkel der damals in der Verlagswelt angewandten feministischen Praktiken untersuchen möchte. Der Fotoroman, der sich in einer fast labyrinthartig anmutenden Anordnung über ein Gefüge aus Tafeln erstreckt, verlässt den auf das Buch begrenzten Raum, um den gesamten Raum einzunehmen; auf humorvolle Art kehrt der Beitrag die Rollenverteilung zwischen Verleger*innen und Figuren um und bedient sich des Mittels der Fiktion, um die Erzählung zu „queerisieren“ und das Genre zu hybridisieren.
Abb. 2: Ansicht der Installation „Borrowed Faces“ (2022) von Fehras Publishing Practices, documenta fifteen, Kassel, 2022. Foto von Liza Maignan
Im Fridericianum, dem wichtigsten und historischen Ort der documenta, lädt The Black Archives zum Flanieren durch seine Sammlung von Büchern, Dokumenten und Artefakten ein, die mit „in der Schule nicht gelehrten und von der institutionellen öffentlichen Geschichtsschreibung nicht erzählten Ereignissen der Black History und Non-Western History sowie der Geschichte der länderübergreifenden Solidaritätsbewegungen gegen die Unterdrückung[2]“ verbunden sind. Dabei präsentiert das Kollektiv einen Teil seiner Bibliothek, der im Rahmen der Ausstellung einsehbar ist. Diese folgt keiner starren Einteilung, sondern fasst die Werke, unter anderem von Françoise Vergès, Maya Angelou, Toni Morrison oder Angela Davis, anhand von Fragestellungen und Thesen wie „How to be a better Black feminist?“, „Black trans & queer rights are human rights“ und „We did it for the children“ zusammen. Indem es den Besucher*innen die Möglichkeit bietet, jeden dieser Bestandteile seines Beitrags vor Ort selbst aufzugreifen, schafft das Kollektiv eine Grundlage für Gespräche und das Teilen von Ressourcen, regt zur Herausbildung eines Bewusstseins an und trägt zur Wiederherstellung eines gemeinsamen Gedächtnisses bei. Im selben Raum befinden sich auch die von einem aus Anthropolog*innen, Forscher*innen und Fotograf*innen bestehenden Kollektiv gegründeten Archives des Luttes de Femmes en Algérie, mit denen die feministischen Proteste und Aktionen sichtbar gemacht werden sollen, die sich in Algerien ereignet haben, seit das Land 1962 die Unabhängigkeit erlangt hat. Auch dieses Kollektiv möchte mit seiner Arbeit den Widrigkeiten der systematischen Ausblendung, der Zerbrechlichkeit und des Vergessens entgegenwirken und sorgt so für ein wirksames Echo auf die Worte der Dokumentarfilmerin Nedjma Bouakra: „In jedem bzw. jeder von uns schlummert ein*e Archivar*in, dem oder der wir Aufmerksamkeit schenken sollten: indem wir uns an ein ersehntes und nicht eingetretenes Ereignis erinnern, Textentwürfe aufheben, die von ihnen ausgehenden Impulse bewahren und uns hinter ihre ungehört gebliebenen Wortmeldungen stellen, die sich jenseits des Bezugsrahmens ihrer Zeit bewegten (…). Sich mit feministischen und auf die breite Bevölkerung zurückgehenden Archiven zu befassen bedeutet, an den toten Enden von Erzählungen, von unseren Vorahnungen und Träumen anzusetzen, Licht in unser wiederholtes Vergessen zu bringen und den Schatten unserer Erinnerungslücken zu erhellen[3].“
Abb. 3: Ansicht der Installation, The Black Archives, documenta fifteen, Kassel, 2022
Ein weiterer Beitrag ist jener von LE18, einem 2013 gegründeten multidisziplinären Kulturzentrum in Marrakesch. Die nach Kassel eingeladenen Mitglieder des Kollektivs arbeiteten zunächst mehrere Monate lang am Entwurf einer Ausstellung, dem kuratorischen Format, das ihnen zu dem Zeitpunkt am naheliegendsten und instinktivsten erschien, wie ein Automatismus. Ihren Aussagen zufolge hatten sie jedoch ein paar Monate vor der Vernissage und nach zahlreichen Treffen eine Art Eingebung, und zwar jene, dass sie sich der natürlichen Neigung zur Ausstellung, die ihnen kein erstrebenswertes Modell mehr zu sein schien, entziehen müssten. In einem Text am Eingang des Raumes in der WH22, der ihren Beitrag beherbergt, schreiben sie: „Was Kassel braucht, ist ein Zufluchtsort für all jene, die sich verloren haben wie wir. Ein offenes Tor zum Himmel, wo unsere Erschöpfung und unsere Misserfolge Zuflucht finden, aber auch die der documenta – der Misserfolg ist, genau wie der Erfolg, dialektisch“. Und so präsentiert LE18, anstelle einer klassischen Ausstellung, eine „tiny library“ und eine „film library“, bei denen es sich um einen Raum zur Sichtung von Druckwerken und Filmen handelt, der mit Sofas ausgestattet und frei begehbar ist und ohne jegliche diktierte Vorschriften bezüglich der Lesemöglichkeiten und der zeitlichen Nutzung auskommt. Es steht eine Auswahl an Fanzines, Zeitschriftensammlungen, Künstlerbüchern und DVDs aus der maghrebinischen Kulturszene zur Verfügung, für die lediglich folgende Spielregel gilt: „Nehmen Sie sich Zeit, um unsere Auswahl zu durchstöbern. Blättern Sie durch die Seiten, fühlen Sie das Papier und nehmen Sie seinen Duft auf. Haben manche dieser Seiten Ihr Interesse geweckt? Falls ja, und falls Sie ein wenig Zeit haben, um sich auszuruhen, nehmen Sie ein Buch, setzen Sie sich auf eines der Sofas oder in einen der Sessel unseres Raumes und lassen Sie sich in die Geschichten hineinziehen, die das Buch Ihnen erzählen will.“ Der Beitrag von LE18, der von Romanen von Assia Djebar über die Filme von Farida Benlyazid, feministische Vorreiterin des marokkanischen Kinos, bis hin zu der Zeitschrift Narrative Machines von Ghita Skali reicht, ist weniger das Ergebnis einer Ablehnung oder ursprünglichen Verweigerung als vielmehr eines Willens zur Weitergabe dieser Ressourcen durch ihre freie Aneinanderreihung. Dabei bezieht ihr reading/watching room die Körperlichkeit der Besucher*innen mit ein, ohne auf diese einen disziplinarischen oder zwangartigen Einfluss auszuüben, und schafft so neue Genealogien und Erzählungen der marokkanischen Kunstszene und ihrer experimentellen Seiten, entgegen den Bestrebungen einer Vereinheitlichung der kulturellen Formate.
Abb. 4: Ansicht der Installation „Tiny Library“, LE18, documenta fifteen, Kassel, 2022
In einem Essay mit dem Titel „Embracing Noise and Other Airborne Risks to the Reading Body“ stellt Elizabeth Haines die folgenden Überlegungen an: „Um die Beziehung zwischen der Bibliothek und den Körpern, die lesen, neu auszurichten, muss mehr getan werden als nur zusätzlichen Platz in den Regalen einzufordern. Es braucht mehr als nur eine Neukategorisierung der Bücher. Was es braucht, ist ein Neudenken des architektonischen Paradigmas der Bibliothek, sodass Platz geschaffen wird für körperliche Wesen, die den Akt des Lesens nutzen, um ihre Verletzlichkeit, ihre Hoffnungen, ihre Keime, ihre Flüssigkeiten und die verschiedenen Tonarten ihrer Stimmen zu teilen. (…) Könnten wir nicht architektonische Paradigmen für das Lesen ersinnen, in denen der Raum der Bibliothek ein Forum für eine lebendige Gemeinschaft wäre, die die Bücher pflegt und gemeinsam liest[4]?“
Vielleicht lassen sich radikale Möglichkeiten der Auslegung dieser „neuen architektonischen Paradigmen“ finden, indem man sie auf Räume für zeitgenössische Kunst anwendet, die, auch wenn sie selbst bestimmten Codes unterliegen, die in anderen Räumen geltenden Gebote und Verbote vereinzelt durchbrechen können. Die kuratorischen Fragestellungen, die sich auf die Einrichtungen zum Lesen beziehen, wie die Sofas von LE18, können den Ausschlag geben, dass wir an jene Punkte gelangen, an denen Bücher keine Skulpturen mehr sind, sondern mögliche Sammelbecken für unsere Gefühle, die wir berühren, erfassen und durchschreiten können, mit denen wir eins werden und die wir unter Umständen abnutzen, mit unseren eigenen Flüssigkeiten durchtränken und mit unseren Spuren versehen können. Durch die Aufnahme dieser Arten von reading rooms in Ausstellungen und mehr noch Biennalen – einer Ausstellungsform, die einige aufgrund ihres Gigantismus als „monströs“ anprangern – können Künstler*innen, Kurator*innen und Verleger*innen kollektive Gedankenwaffen anbieten. Eine „erweiterte Literatur“ (expanded literature), die aus dem Buch und seiner Verknüpfung mit anderen Büchern und anderen Körpern einen Übertragungsweg macht, der es ermöglichen würde, zu anderen Geschichten, anderen Erzählungen zu gelangen und damit zu beginnen, gemeinsam zu denken.
[1] Laura Larson, „Preface“, in Heide Hinrichs, Jo-ey Tang, Elizabeth Haines (Hrsg.), shelf documents, art library as practice, Antwerpen & Berlin, b_books, 2020, S. 13.
[2] Carine Zaayman, Chiara De Cesari & Nuraini Juliastuti, Beschreibung im Katalog der documenta.
[3] Nedjma Bouakra, „Archives“, in Elsa Dorlin (Ltg.), Feu ! Abécédaire des féminismes présents, Montreuil, Éditions Libertalia, 2021, S. 48.
[4] Elizabeth Haines, „Embracing Noise and Other Airborne Risks to the Reading Body“, ebd., S. 81.