Lila Torquéo ist eine junge Kuratorin und Kunstkritikerin, die 2024 für das Reise- und Forschungsstipendium in Deutschland ausgewählt wurde. Im Rahmen dieses Programms hat sie den kuratorischen Text „The show can’t go on, so who do you want me to be ? (2024)“ verfasst, der das Ergebnis ihrer Recherchen während ihrer Besuche in Berlin, Köln, Düsseldorf und Hamburg ist.
Eine einmonatige Wanderung durch Deutschland hat mich in die trüben Gewässer der schwarzen Romantik, des Punk-Minimalismus und des deutschen Expressionismus geführt. Alles begann im „Kathy Acker Reading Room“ in Köln, in dem ich einige literarische Texte und theoretische Hilfsmittel sammelte. Diese Lektüren bereiteten mich auf die radikalen Vorstellungen von Gisèle Vienne vor, die mittlerweile in der Berliner Szene zu Hause ist. Nicht weit von der ihr gewidmeten Ausstellung im Haus am Waldsee, die im September 2024 eröffnet wurde, geht es in der Ausstellung von Calla Henkel & Max Pitegoff um eine andere Form der Theatralität. Der vorliegende Text berichtet über diese Ausstellung sowie über andere Ausstellungen, die ich in Berlin, aber auch in Köln, Düsseldorf und Hamburg besucht habe. Das Schreiben dieses Textes beendete ich zwischen den Regalen der Bibliothek des CN D – Centre National de la Danse – in Pantin, die über eine besonders breite Auswahl an Büchern über Gisèle Vienne verfügt. Diese Reise wurde durch die Unterstützung des Büros für Bildende Kunst | Institut français Deutschland möglich gemacht, dem ich meinen herzlichen Dank aussprechen möchte.
Angharad Williams, Origin nature destiny 5, 2024, inkjet print on satin paper, museum glass, custom frame, Courtesy Schiefe-Zähne.
In den 80er und 90er Jahren ähnelte die Kölner Kunstszene einer fröhlichen Seifenoper, zwischen Bars und Galerien, die Martin Kippenberger und andere ikonoklastische Künstler:innen in irre Shows verwandelten, in einer Mischung aus Chaos, Kameradschaft und exzentrischem Glamour. Einige von ihnen, darunter Michael Krebber und Jutta Koether, zogen nach New York, während andere wie Rosemarie Trockel und Cosima von Bonin blieben. Julia Scher und Matthias Groebel erfuhren noch nicht die Anerkennung, zu der die Galerie DREI inzwischen beigetragen hat. Mit Matthias Groebel spreche ich über die geordnete Schizophrenie zwischen seiner Arbeit als Apotheker und seinem Leben als Künstler, die so weit ging, dass Cosima von Bonin offenbar nicht wusste, dass sie die Medikamente für ihre erkälteten Hunde bei einem so genialen Künstler holte. Wir sprechen über „Hauntologie“, Mark Fisher, die – klangvollen, metallischen und sinnlichen – Grautöne seiner Werke und das texturlose, mondäne und generische „sad grey“ als Syndrom der postmodernen Atrophie. Die Porträts der Punks, die Groebel in den „Midnight Programs“ im Fernsehen beim Tanzen beobachtete, starren uns heute in Vernissagen an, die wir wie verirrte Mäuse bevölkern, wie gefangen im gelatinösen Voyeurismus der Zeit. Wir, die Fernsehzuschauer:innen von gestern, sind zu den Akteur:innen von heute geworden.
Zur gleichen Zeit werden Werke von Julia Scher in der Galerie DREI ausgestellt. Mikrowellenherde werden zu Überwachungskameras, Videoprojektoren, Monitoren und Drehtellern, auf denen sich inszenierte Homunculi türmen. Diese stereotypen Figuren eines Endzeitstadiums der Menschheit ziehen hier ihre letzte Show ab, während andere, bereits verstümmelt, im Niedergang begriffen sind, zu Zahlen verfallen, zu rohem Fleisch, das zum Braten bereit steht. Zwischen den pastellrosafarbenen Nuancen der Haushaltsgeräte und den fatalen Folgen der vom Militär genutzten Hochfrequenzwellen vermischt Scher das Militärische und das Häusliche auf dem Operationstisch des 21. Jahrhunderts. Ihre Cyberromantik eröffnet eine vierte Dimension, in der sich die Körper in ihrer Porosität als Empfänger von Wellen und Strömen akzeptieren, gefangen in kosmischen Spielen mit Maßstäben und Rückkopplung. Diese Öffnung in die Unendlichkeit erinnert an die von Julie Becker, die in „Whole“ (1999) den Boden ihres Studios durchlöcherte und in das Loch ein Modell der „California Federal Bank“ stellte, die sie vom Fenster aus sehen konnte. Das Draußen dringt in das Drinnen ein; das Gewebe der Raumzeit krümmt sich und öffnet sich zu einem Loch, in dem sich Energieschleifen bündeln. In Julie Beckers Zeichnungen vibriert das Fernsehsignal noch immer und die Sternenstaubreste, aus denen wir gemacht sind, glitzern in Spiegeln.
Wenn wir in Deutschland unsere Getränkeflaschen und Dosen in einen Leergutautomaten werfen, treten wir in einen Energiekreislauf ein, der hier als „Clean Loop Recycling“ bezeichnet wird. Eine der Fotografien aus Angharad Williams‘ Reihe „Origin nature destiny“ (2024) ist an die Wand seines Ateliers geklebt. Sie sieht aus wie ein Bullauge, das in den Korridor eines Raumschiffs hineinführt, wie ein Durchgang zu einem wichtigen und matrixartigen Ort. In Wirklichkeit handelt es sich um das Innere eines dieser Leergutautomaten, dieser Übertragungspunkte, an denen sich Material-, Finanz- und Informationsströme kreuzen und neu verteilt werden.
In einem ehemaligen in „Chess Club“ umbenannten Geschäftslokal in Hamburg lässt Amanda Weimer die galaktischen Horizonte und Himmelsmechaniken von Mimi Hope und die sozialen Einheiten von Tim Mann sichtbar werden. Vom Boden bis zur Decke vervielfachen sich Spiegel, vor denen unsere narzisstischen Körper fragmentiert werden und ihre Reflexionen treiben lassen. Diese Installation erfasst uns in der gleichen elliptischen Bewegung wie die glitzernden Spiralen, die ebenfalls in den Werken zu sehen sind. Wir befinden uns im Zentrum und an der Peripherie dieses Raums, dessen glamourös roter Teppichboden aus der Ferne betrachtet eine Pigmentierung aufweist, die der eines infizierten Hautgewebes ähnelt.
Die „People Going Up & Down“ in James Whittinghams Ausstellung im The Wig in Berlin sind Bastelautomaten aus Papier, die Oskar Schlemmers Diagrammen ähneln; ineinandergreifende Bewegungslinien auf ebenen Flächen.
Reisen, sich dissoziieren, das große Draußen in 4K erleben und dem sozialen Körper begegnen.
Matthias Groebel, Galerie DREI, Frieze London 2023, Courtesy Galerie DREI.
Wer hätte gedacht, dass Kathy Ackers Bibliothek eines Tages in einer deutschen Universität enden würde? Doch nun ruht Ackers radikaler und bissiger Schatz in einem kleinen, nüchternen, mit einem neutralen und unprätentiösen Teppichboden ausgelegten Raum der Universität zu Köln. Ihre kraftvolle Literatur, für die sie so viele Welten in sich aufgesogen hat, um ihre eigenen Welten zu errichten. Im Jahr 2015 wurde diese Sammlung von ihrem Testamentsvollstrecker Matias Viegener dem „English Department“ der Universität geschenkt. Der Transport aus Kalifornien verlief nicht ganz reibungslos: Einige Werke wurden auf der Reise durch Feuchtigkeit beschädigt und mussten restauriert werden. Im „Reading Room“ befinden sich heute ihre Bücher und Manuskripte, teilweise mit handschriftlichen Anmerkungen, aber auch Schallplatten, Kassetten, Briefe und persönliche Relikte. Hier stehen klassische, theoretische, experimentelle und transgressive Literatur nebeneinander, darunter Kriminalromane, erotische Pulp Fiction, viktorianische Pornografie und Science-Fiction. In den Regalen folgen die Bücher der Reihenfolge, in der sie sich ursprünglich in den Kartons befanden. Sie wurden von Daniel Schulz, dem Wächter dieses literarischen Heiligtums, inventarisiert. Darunter befinden sich seltene, mittlerweile vergriffene Ausgaben wie einige Romane von Dennis Cooper, die die grausamen Vorstellungen, an denen er zusammen mit Gisèle Vienne arbeitet, und ihre bevorstehende Ankunft in Berlin vorwegnehmen.
Dennis Coopers 1993 erschienenes Theaterstück „Jerk“ ist eine imaginäre Rekonstruktion der Geschichte von David Brooks, dem Mithelfer von Dean Corll, einem Serienmörder, der in den 1970er Jahren in Texas mehr als 20 Jungen tötete und folterte. Cooper inszeniert die Figur von David Brooks, der im Gefängnis über dieses blutige Werk eine Puppentheateraufführung zum Besten gibt. Er porträtiert einen Mann ohne Bezug zur Realität, der von seinem Wahn der extremen Gewalt mitgerissen wird und moralisch völlig untergeht. Der Mörder löscht die Identität seiner Opfer aus und reinkarniert ihre Leichen als fiktive Figuren und Fernsehstars. Aus diesem Text konzipierte Gisèle Vienne 2006 ein Hörspiel, dann ein Puppenspiel und schließlich einen Film, der 2021 gedreht wurde und im September auf dem Programm der Sophiensæle in Berlin stand.
Die szenische Einheit des Films konzentriert sich in einer hypnotischen Plansequenz auf den Oberkörper von Jonathan Capdevielle, der in der Mitte einer leeren Bühne sitzt. In einer völligen Dissoziation ist der Bauchredner gleichzeitig Puppentheater, Figur und Puppenspieler für drei Handpuppen. Durch diese miniaturisierten Körper und Handlungen wirft er uns in einen Tatort, der mit Blut und Lüsternheit besudelt ist, wo der Ton zum Bild wird und der Schleim das Sperma ersetzt. Dieses makabre Delirium erreicht derartige Höhen der Obszönität, dass es bitterlich spaßig wird. Die Subjektivität der Figuren wird verzerrt und löst sich dann in einem solchen Grad an Schizophrenie auf, dass man nicht mehr weiß, wer wen fickt, ob es der Serienmörder ist, der die Leiche fickt, oder der Bauchredner, der den Serienmörder fickt. Es entsteht eine Erfahrung des Doppelgängers, des Anderen, der dennoch mit dem Selbst übereinstimmt, was eine absolute Verwirrung der Identitäten erzeugt. Aber wie kann es in einer Zeit, in der wir die barbarischsten Gräueltaten der gegenwärtigen Kriege beobachten, legitim sein, sich ein gewisses ästhetisches Vergnügen an einem solchen sadistischen Spektakel zu erlauben? Besteht nicht die Gefahr, dass die Betrachtung von Grausamkeiten den Wunsch hervorruft, diese nachzuahmen? Dieses moralische Dilemma ist aufgrund seiner Unlösbarkeit unbequem. Zwar gibt es keinen Ausweg aus diesem Unbehagen, aber dennoch konfrontiert es das bürgerliche Publikum mit niederträchtigen Figuren, zu deren Komplizen es wird, mit diesen Monstern, die unsere Gesellschaft erzeugt und die uns von innen heraus zerstören.
Während des Kalten Krieges war West-Berlin eine Hochburg des US-amerikanischen Kapitalismus und ein Ankerpunkt für die bürgerlichen und neoliberalen Werte der Bundesrepublik Deutschland. Hier liegen die Ortsteile Zehlendorf und Dahlem mit neoklassizistischen und neogotischen Villen, in denen Botschaften, Fakultäten und Militärgebäude untergebracht sind, in einem sehr sauberen Ambiente, das von modernistischen Gebäuden unterbrochen wird. Genau in diesem Teil der Stadt finden die Ausstellungen von Gisèle Vienne und Calla Henkel & Max Pitegoff statt. Man muss sagen, dass diese Ausstellungen, die den Einfluss des Neoliberalismus auf die Körper thematisieren, gut in diese ehemals abgeschottete Wirtschaftszone passen. Im Haus am Waldsee, einer Villa mit idyllischer Umgebung, zeigt Gisèle Vienne „This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play“. Nicht weit davon entfernt wird „THEATER“ von Calla Henkel & Max Pitegoff im dunklen Fluentum ausgestellt, einem massiven und hochspießigen Gebäude, das zuerst von der Luftwaffe und dann von der US-Armee besetzt wurde und aus einem schwarzen, von elektrisch weißen Adern durchzogenen Marmor besteht. Die Praktiken dieser Künstler:innen unterscheiden sich voneinander, aber sie drücken einen gemeinsamen Wunsch aus, sich mit dem eigenen Körper und dem des Kollektivs zu synchronisieren und dem durch die Perversität der sozialen Beziehungen hervorgerufenen Zerfall zu widerstehen.
Seit dem Mauerfall hat Berlin einen Umbruch erlebt, der vom Triumph der Marktwirtschaft geprägt ist. Und selbstverständlich sind Künstler:innengemeinschaften wie die von Henkel & Pitegoff Teil dieser wirtschaftlichen Umstrukturierung. Seit ihrem Studium an der Cooper Union haben sich die beiden damit beschäftigt, verschiedene Orte zu Bars umzufunktionieren, angefangen mit ihren Studentenwohnungen in Berlin und New York. Im Jahr 2011 betrieben sie die Times Bar in Berlin. Dann eröffnete 2013 das New Theater in einem Schaufenster in Berlin-Kreuzberg. 2019 folgte die TV Bar im Ortsteil Schöneberg. Indem sie Bars betrieben, die voll von Kunstschaffenden aus dem Ausland waren, sahen sie sich mit dem Paradoxon konfrontiert, dass sie den Prozess der Gentrifizierung befeuerten. Diese Sorge ist in ihren Werken latent vorhanden, wie in „Apartment III“ (2014), einer Auswahl von Ansichten von Berliner Wohnräumen, deren ultra-standardisierte und entpersonalisierte Dekoration den Standards der Airbnb-Apartments entspricht, die in der Stadt immer mehr werden. Auf die Nostalgie der ehemaligen DDR, die die Künstlerin Henrike Naumann durch kitschige Retro-Möbel aus den 90er Jahren zum Ausdruck bringt, folgt die unternehmerische Ideologie seelenloser, entmenschlichter Wohnungen, die im Dienste der kollaborativen Wirtschaft der Vermietungsplattformen stehen. Eine vermeintliche Neutralität, die ebenso viele ideologische Botschaften vermittelt.
Calla Henkel & Max Pitegoff, New Theater Hollywood, Bild: Calla Henkel and Max Pitegoff.
Aufgrund ihres gemeinschaftlichen Charakters bildete die Bar gleichzeitig den Ursprungsort, die Bühne und einen der Protagonisten der Erzählungen von Henkel & Pitegoff. Aus den in ihrem „Gossipy Scrapbook“ gesammelten Gesprächen schufen sie fiktionale Stücke. Seit Anfang des Jahres ist das Künstlerpaar jedoch in einem richtigen Theater untergebracht, dem New Theater Hollywood in Los Angeles. Dort setzen sie sich weiterhin für ein Amateurtheater unter Freund:innen ein und laden jede/n ein, seine/ihre eigene Rolle zu spielen. Der Stummfilm „THEATER“, der im Fluentum zu sehen ist, wurde in diesem neuen Raum gedreht. Der Film zeigt, wie Kennedy, die von Leilah Weinraub gespielt wird, davon träumt, ein Ensemble zu gründen. Mit dem Geld, das sie nach einem Autounfall von ihrer Versicherung erhalten hat, kann sie ein Theater kaufen, ist aber aus finanziellen Gründen gezwungen, vor Ort zu leben und es gleichzeitig an andere Künstler:innen zu vermieten. Dort stellt sie fest, dass ihr Theater durch eine Mauer in zwei Hälften geteilt wurde und sich auf der anderen Seite ein weiteres, identisches Theater befindet, in dem Performer:innen rund um die Uhr an einem Online-Kurs teilnehmen. Sie schaut gebannt auf den Bildschirm und gibt sich dieser Reality-Show hin, in der ein guruähnlicher Lehrer ein Klima der Gewalt, des Verlangens und der gegenseitigen Ausbeutung unter den Lernenden schafft. Wie so oft in den Werken dieses Künstlerduos zeigt auch dieser Film die materiellen Lebens- und Schaffensbedingungen von Künstler:innen, die mit Vertreibung und wirtschaftlichen und moralischen Dilemmas konfrontiert sind. In einer Kulisse aus Spiegeln und glitzernden Metallgirlanden, die das analoge Bild samtig machen, erhält diese düstere Geschichte einen melancholischen und burlesken Unterton. Der camphafte Humor des Textes und die schillernde Textur der 16-mm-Photographie mildern die Erzählung ab. Diese altmodische Ästhetik will möglicherweise die Nostalgie und die Künstlichkeit der Traumfabrik Hollywood in Szene setzen, die Kenneth Anger als „künstlich-schäbige Stadt“ bezeichnet.
Das Auto und das Theater haben mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint: Bewegungen, Licht, Dialoge und Richtungen. Beide sind auch Orte, an denen ein Casting beginnen kann, wie im Fall von Kennedy als Fahrerin derjenigen, die ihre Darsteller:innen werden sollen. Dann braucht es nicht viel, um eine Bühne zu bilden: ein Mikrofon und einen Lautsprecher, ein Podest oder ein paar Stühle. All das hat Kennedy in ihrem Kofferraum immer griffbereit, wenn es nötig ist. Es handelt sich um recht einfache Protokolle, die in der öffentlichen Rede an der Kreuzung der Boulevards in Los Angeles Widerhall finden. Mit oder ohne Mikrofon erobern junge, in „Guerilla Readings“ organisierte Künstler:innen und Schriftsteller:innen den öffentlichen Raum dieser Stadt zurück, die ihnen besonders feindlich gegenübersteht. Bis zu einem bestimmten Alter scheint man mit Mythen und Worten noch durchkommen zu können, wenn das Geld fehlt.
„The town was one giant audition.[1]“
Installationsansicht, Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play, Haus am Waldsee, 2024, Bild: Frank Sperling.
Berlin ist auch die Heimat des expressionistischen Theaters und des Theaters der Angst, das als Kulisse für Gisèle Viennes Puppen dient. Jene, die im Haus am Waldsee ausgestellt werden, sind in verschiedenen Totenhaltungen erstarrt, gefangen in der Stasis ihrer steifen Körper, mal als Liegefiguren, mal als Leichen im Sarg. Hier gibt es keine Emotionen, keinen Horizont – alles ist gedämpft. Man ertappt sich dabei, andere Besucher:innen anzusprechen, weil sie sich bewegen, obwohl man sie für Puppen gehalten hätte. Man sagt: „Sie haben mich erschreckt“, „Tut mir leid“, „Nein, es ist meine Schuld, ich fühle mich manchmal selbst wie eine Puppe“. Man entflieht dem Körper und wird zum Komplizen einer Gewalt, die einen hilflos zurücklässt. Das melancholische Weiß der Puppen ähnelt dem der schweren Tischdecken in bürgerlichen Cafés, wo die Gespräche leise geführt werden, als müsse ein Geheimnis verschwiegen werden, und wo die Worte durch scharfes Besteck und laute breite Teekannendeckel zerhackt werden. Diese geschwungenen Kannen aus Chrom sind ideal, um das Kommen und Gehen zu beobachten, ohne dass ein direkter Blick zwischen Gästen und Kellner:innen ausgetauscht wird. Angharad Williams hat übrigens ein Werk zu diesem Thema geschaffen. In der Ausstellung von Gisèle Vienne öffnen sich die Vorhänge unseres normativen Gesellschaftstheaters und geben den Blick auf ernste und groteske Puppen frei, die, wenn sie könnten, vielleicht in diese Cafés gehen würden, die rund wie Galopprennbahnen sind, um sich in die Luft zu sprengen, um sich dem Genuss hinzugeben, zu weinen und alles durcheinander zu bringen[2]. Nichts ist ernster als eine Kinderzeichnung.
Aber was haben uns diese stets weißen, schlanken und ewig jungen Gestalten zu sagen? Die Philosophin Elsa Dorlin verbindet dieses matte Weiß mit dem der heteropatriarchalen Gewalt, ohne dabei diese Symbole in einer eindeutigen Interpretation im Hinblick auf den weißen Imperialismus zu verfestigen. Die nachdrückliche Präsenz dieser stereotypen Körper mit ihrem hohen mimetischen Potenzial wirft dennoch Fragen über die Auswirkungen der Reproduktion von westlichen machistischen Normen auf. Besteht nicht die Gefahr, dass die Idealisierung einer einzigen Körperform und einer einzigen ethnischen Identität auf Kosten der Vielfalt bestehende Wahrnehmungshierarchien legitimiert? Die Frage bleibt offen, aber ich glaube, dass ihre Bedeutung am stärksten zum Tragen kommt, wenn sie sich an weiße bürgerliche Besucher:innen richtet. Diese Besucher:innen waren noch vor Viennes Ausstellungen Zeugen der Erotisierung junger Körper. Diese entkörperten Figuren ohne Biografie und Innerlichkeit veranschaulichen die grausamen Folgen eines objektivierenden Blicks. Dieser Blick drängt reale Körper in die Anpassung an eine standardisierte Vorstellungswelt und in die Beschränkung ihrer Psychologie auf eine geschminkte Oberfläche. Offensichtlich erheben sich Viennes Puppen zu Märtyrern und tragen die Kritik an einem System in sich, das ein Schönheitsideal als Unterdrückungsinstrument aufzwingt. So richtet sie die Grausamkeit des Blicks, der entmenschlicht und tötet, an uns. Denn wie sie sagt: „Die Liebe des Pygmalion ist eine Aggression[3]“. Dem katatonischen Zustand ihrer Puppen stehen die Diskussionen gegenüber, die sie im CN D – Centre National de la Danse – in Pantin initiiert hat. Seit 2021 findet dort das Seminar „Travailler la violence“ von Elsa Dorlin statt, die Gisèle Vienne dazu eingeladen hat, kollektive Neuschreibungen der vergangenen und laufenden Geschichte zu sammeln, mit dem Ziel, die Erinnerungskultur der Kämpfe zu teilen. Und dies in einem Rahmen, der für die „Neucodierung der Wahrnehmungen“, wie sie es nennt, viel günstiger zu sein scheint.
Installationsansicht, Gisèle Vienne. This Causes Consciousness to Fracture – A Puppet Play, Haus am Waldsee, 2024, Bild: Frank Sperling.
[1] Aus dem Film „THEATER“, Calla Henkel und Max Pitegoff, 2024.
[2] Romain, der Teenager in Dennis Coopers Film „Permanent Green Light“ (2018), verspürt auch diesen dringenden Wunsch, sich in die Luft zu sprengen, weniger um zu sterben als um Ekstase zu erreichen.
[3] Gisèle Vienne in Elsa Dorlin (éd.) Feu ! Abécédaire des féminismes présents, Libertalia, 2021.