Public Space

Projekte im öffentlichen Raum sollten sich zu ihrer Umgebung diskursiv verhalten: Wie können Kunstwerke auf die Vielzahl von Stimmen und Einflüße reagieren? Welche Wirkungen hat diese verwobene und komplexe Beziehung auf beide Seiten?

CelinePoulin_1_CreditMarlenMueller

Bild: Marlen Müller

Discussion In Extenso – Erweitert : Public Space

TRAILER IN EXTENSO – ERWEITERT : PUBLIC SPACE

Exberliner – Interview mit Céline Poulin

“Three questions for… Céline Poulin”

Arte Creative – Interview mit Céline Poulin

“Ich interessiere mich für Kunst, die verstört”

In einem Interview mit Arte Creative erzählt Céline Poulin über Ihre Arbeit als Kuratorin und über das Projekt In Extenso – Erweitert.

Vier Fragen an Céline Poulin

Wie würdest Du den Begriff von „Public Space“ definieren? Eine Analyse des Begriffs “Public Space” muss drei Dimensionen erfassen, und zwar diejenigen, die den öffentlichen Raum ausmachen bzw. bilden: Neben „care“ ist das „Sprache“ sowie “Fiktion“. In ihrem Werk Actors, Agents and Attendants, Caring Culture : Art,Architecture and the Politics of Health fragen die Herausgeber Andrea Phillips und Markus Miessen nach der Beziehung zwischen Kunst, Kultur und der politischen Dimension von „care“.

Der vieldeutige Begriff „care“ verbindet die Institutionen, deren Agenten (Krankenpfleger und -schwestern, Erzieher, Sozialarbeiter, etc.) sowie die öffentliche Hand des „welfare state“ in demokratischen Systemen. Sie gemeinsam implizieren gesellschaftliche Sicherheit und etwaige Unterastützung. Der Terminus „Kurator“ hat den gleichen Wortstamm und bedeutet auch „to take care“ – in diesem Fall, des Betrachters. Das Werk von Andrea Phillips und Markus Miessen kritisiert das Paradigma des „care“ als „ideologisch, paternalistisch, repressiv für das Individuum, für das Besondere und für den (kapitalistischen) Wachstum“ trotz eindeutiger Vorteile, wie „ dem kostenfreien Zugang zu Bildung, der Förderung von Kunst, dem gleichberechtigten Zugang zu Kultur, Erziehung und Pflege.“

Der Begriff des „care“ ist grundlegend, da er die Frage nach den Rollen und Aufgaben im „öffentlichen Raum“ stellt. Dieser Ansatz unterscheidet die Personen, die Hilfe bzw. Pflege im Sinne des „care“ erfahren von denjenigen, die über die Hilfsleistungen bestimmen und entscheiden, wer Anspruch auf sie hat. Trotz des lobenswerten Grundverständnisses schafft dieses Verständnis Machtverhältnisse: Wer schreibt die Regeln vor? Wer befolgt sie? Was geschieht, wenn jemand die Vorschriften nicht befolgen möchte?

Ich verwende hier den Terminus „vorschreiben“, da Macht und Machtverhältnisse im öffentlichen Raum sehr oft eine Frage der Sprache sind: Wer spricht? Wem ist es gestattet, zu sprechen? Was ist die offizielle Sprache? Sich (in Wort oder in Schrift) auszudrücken, hat erheblichen Einfluss auf den öffentlichen Raum und bestimmt die Stellung jeder Person.

Markus Miessen, der neben seiner Autorenschaft auch Architekt ist, verfasste gemeinsam mit Magnus Nilsson von nOffice eine Analyse der Gestaltung desjenigen Raumes, in dem das Wort ergriffen wird. In diesem Zusammenhang betonen sie die regulierende Kraft beweglicher Objekte bzw. architektonischer Strukturen für und im öffentlichen Raum, wie zum Beispiel in einem Amphitheater der Fall: die Anordnung des Raumes bestimmt die Stellung des Sprechers und des Zuhörenden. Die mündliche und schriftliche Sprache zerlegt demnach den öffentlichen Raum. Worte sind auf Wände geschrieben – auf legale Weise durch Werbung und auf illegale Weise durch Graffiti.

Es ist grundlegend, den öffentlichen Raum als diskursiven Raum zu begreifen. Wie Vanessa Desclaux in ihrem Werk „A sequence or a phrase“ analysiert, stellt Grammatik im Rahmen der Kommunikation ein Ganzes dar, das aus Regeln, Sprache regulierenden Konventionen und Normen besteht, aber auch im Rahmen des Wohnens Architektur normiert und Regeln unterliegt.

Auch Jean-Pascal Flavien arbeitet in diese Richtung: Indem er Bewohnern von Häusern grammatikalische Hilfsmittel zur Verfügung stellt (z.B. bewegliche und demontierbare Türen), Eröffnet er einen Raum für ihre Projekten, einen Raum,  in dem sie ihre eigenen Fiktionen gestalten können. Es geht darum, die diskursive Dimension des öffentlichen Raumes zu denken. Natürlich besteht Sprache auch aus Fiktion. Vor allem ist Fiktion fester Bestandteil des Prozesses, der den öffentlichen Raum bildet:  Einerseits projizieren Architekten und Urbanisten ihre Wunschvorstellungen hinsichtlich des Gebrauchs des öffentlichen Raumes, wenn sie Gebäude errichten oder einen Raum organisieren. Auf der anderen Seite sind auch sie durch Bücher, Filme und Comics beeinflusst… Überdies projizieren die Bewohner und Benutzer ihr eigenes „Raster“, das Perzeption und kulturelle Konstruktion in Verbindung bringt, auf die Welt in der sie leben. Deren persönliche und kollektive Fiktionen beeinflussen unmittelbar also die Stofflichkeit des öffentlichen Raumes wie auch Architekten, Künstler und Urbanisten Formen schaffen, die diesen Fiktionen entsprechen.

Man kann ergänzen, dass Fiktion auch den Begriff der Utopie miteinschließt. Aber, wie Jacques Rancière in einem Interview betont, „Das Wort Utopie hegt zwei widersprüchliche Bedeutungen: der Nicht-Ort und der richtige Ort.“ Ein Ort ohne Standort, ohne Einordnung einerseits, und andererseits einen Ort wo man sein soll. Die erste Bedeutung des Wortes ist mit dem Traum verbunden, die zweite mit dem Weg, den man für das eigene Wohl gehen soll, eine Art Gebot.

Nun möchte ich aber zum Begriff des „care“ und seiner demokratischen Mehrdeutigkeit zurückkommen: Eine unglaubliche Aktion des Konzeptkünstlers Raivo Puusemp, die Dissolution Rosendales, ist eine sehr interessante Verkörperung der Verbindung zwischen „care“, Sprache und Fiktion im öffentlichen Raum.

Raivo Puusemp bekleidete zwei Jahre lang das Amt des Bürgermeisters der Kommune Rosendale (ein kleines schuldenbeladenes Dorf im Staat New York, das sich – wie viele andere amerikanische Städte dieser Zeit – mit internen politischen und generationellen Streitigkeiten konfrontiert sah). Das Projekt dokumentiert seine Kampagne bis zu seinem Rücktritt, nachdem er es schaffte die Grenzen des Dorfes neu zu definieren. Er löste Rosendale juristisch gesehen auf und integrierte es in ein Nachbardorf mit demselben Namen.

Für uns ist bei dieser Intervention Puusemps vorallem die Möglichkeit interessant, einen öffentlichen Raum – administrativ gesehen – sozusagen auszulöschen. Er eliminiert diesen Raum konkret, immateriell und selbstverständlich auf diskursive Weise. Der öffentliche Raum Rosendale wird zu einem Nicht-Raum. Die Aktion Puusemps befragt gleichzeitig auch die Autorität des Bürgermeisters und den Einfluss der Sprache in der Gestaltung des öffentlichen Raumes.

Inwiefern bezieht sich deine Arbeit als Kuratorin auf „Public Space“, das Thema, das du im Rahmen des Projekts In Extenso behandeln wirst? In meiner Praxis als Kuratorin spezialisiere ich mich, seit zehn Jahren auf die Gestaltung von Ausstellungen und kontextuelle wie kooperative Projekte. Eine Ausstellung ist für mich eine kontextreiche Plattform, die für jedes Projekt eine Geschichte, ein allgemeines Bild, eine Verbindung mit dem Publikum herstellt. Der soziale, ökonomische, architektonische Kontext, wie das angesprochene Publikum und die den Ausstellungen inhärenten Parameter werden in meinen Projekten kritisch hinterfragt, sei es im den Parc Saint Léger oder in meinen Tätigkeiten als selbstständige Kuratorin mit oder ohne Le Bureau/.

Le Bureau/ ist ein in Paris aktives Kuratoren-Kollektiv, das ich im Jahr 2004 mitbegründet habe. Unser Ziel ist es, Ausstellungen im Sinne eines dynamischen und vermittelnden Raumes zu hinterfragen. Die gemeinsame Arbeit als Kuratoren ist eines der Grundprinzipien des Kollektivs. Den Austausch der Kompetenzen und Sensibilisierungen schaffen Protokolle, die auf eine multiple und relative Lesart das Werk fundieren.

Seit 2010 kümmere ich mich um das Hors-les-Murs Programm des Parc Saint Léger, Zentrum für zeitgenössische Kunst. Dort habe ich Projekte mit verschiedenen Partnern entwickelt, die sich in Räumen abspielten, die kulturelle und soziale Verbindungen schaffen: Museen, Krankenhäuser, Schulen, Schaufenster in der Stadt oder in Einkaufszentren. Die Ausstellungen und Veranstaltungen, die ich organisiere, sind immer für den Raum, in dem sie sich abspielen und mit den Personen, die sie betreuen, gedacht.
Gruppenausstellungen erlauben mir, künstlerische Herausforderungen zu definieren, welche auf die Räume, in denen sie sich entfalten, reagieren und diese problematisieren. Um meine Praxis ins Licht zu rücken, habe ich „Micro-séminaire“ konzipiert. Das Buch thematisiert die kuratorische und künstlerische Praxis. Frankreich hinkt in dieser Hinsicht noch etwas hinterher. Hinzu kommt, dass wir im Hinblick auf Finanzierung von Kultur eine Ausnahme darstellen, wasmit der öffentlichen Finanzierung von Kultur zusammenhängt.

„Micro-séminaire“ bringt den Austausch zwischen sämtlichen französischen Akteuren zusammen, deren Beitrag für die Zusammenarbeit und kontextuelle Praxis zentral sind, so auch die Übersetzung von thematischen Grundlagentexten ( Raqs Media Collective, Hassan Khan, Claire Bishop, Maria Lind). „Micro-séminaire“

Das Projekt In Extenso ermöglicht mir, die Recherche zum Thema Interaktion zwischen Kunst und öffentlichem Raum weiterzuführen.

Was bedeutet es heutzutage eine Kuratorin zu sein? Wie würdest Du die Rolle des Kurators in der Gesellschaft beschreiben? Für mich bedeutet Ausstellungskuratorin zu sein, der Entwicklung einer alternativen Kenntnis der Welt in Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren, z.B. Künstlern und anderen, beizutragen. Akademische Kategorien sollten abgeschafft werden, um Fachrichtungen kooperativ zu verbinden. Ich komme vom Hintergrund der Philosophie und des Comics, und berufe mich oft auf den Comics Theoretiker Scott Mc Loud, um meine Arbeit darzustellen. Tatsächlich kann das von einer Kuratorin eingerichtete Display mit der Gestaltung der Zeichnungen eines Comics verglichen werden:

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Eine Ausstellung ist eine Montage und eine Plattform für Erkenntnis, da sie durch die Verbindung verschiedener Elemente Sinn schafft. Dieser Sinn wird auch mit den Künstlern, den Forschern und allen anderen beteiligten konstruiert: Eine Ausstellung zu schaffen, ist eine kollektive Praxis.

Aber das Format der Ausstellung allein, ist nicht die einzige Ausdrucksform eines Kurators: Texte, Workshops, Lesungen, Konferenzen sind überdies geeignete Formate.

Welchen Beitrag leistet ein Programm wie Jeunes Commissaires mit einem Projekt wie In Extenso zu deiner Arbeit? Der Prozess des Projektes In Extenso entspricht ganz meiner Arbeitsweise: Kooperation, fachübergreifender Austausch, Forschung, etc. Das Projekt beginnt mit einer Diskussion mit Markus Miessen und Jean-Pascal Flavien und einem Workshop, der die Diskussion mit der Berliner Szene anregt, um die Ausstellung, die 2015 stattfindet, zu entwickeln.

Ich freue mich sehr, von Cathy Larqué, Mathias Böttger und Marc Bembekoff für dieses spannende Projekt um das Thema des öffentlichen Raumes eingeladen worden zu sein.

WORKSHOP: PUBLIC SPACE

Workshop In Extenso – Erweitert: Public Space, 27. November 2014 im Deutschen Architektur Zentrum, mit:

– Yildiz Aslandogan, Architektin
– Fabien Bidaut, Architekt
– Alicia Frankovich, Künstlerin
– Judith Lavagna, Kuratorin
– Aude Pariset, Künstlerin
– Joanne Pouzenc, Architektin
– Cailen Pybus, Architekt
– Tanya Ostojic, Künstlerin
– Vanessa Safavi, Künstlerin
– Cathy Larqué, Leiterin des Bureau des arts plastiques
– Matthias Böttger, Kurator im Deutschen Architektur Zentrum

Der „öffentliche Raum“ besteht aus architektonischem Funktionalismus, städtebaulicher Planung, offiziellen Reden und spontanen Äußerungen/Aktionen, die mittlerweile auch eine nicht zu vernachlässigende virtuelle Dimension haben. Er ist mehr denn je ein geteilter Raum, in dem neue globale Kulturen und Subkulturen entstehen. Hier scheiden sich die Geister und es gibt widersprüchliche Ansichten dazu, ob diese Prozesse als Auf- oder Abwertung zu verstehen seien. Céline Poulin untersucht diese Entwicklung anhand einer Reihe von Schlüsselwörtern und im Gespräch mit den folgenden Künstlern, Kuratoren, Aktivisten oder Architekten: Yildiz Aslandogan, Fabien Bidaut, Alicia Frankovich, Judith Lavagna, Aude Pariset, Joanne Pouzenc, Cailen Pybus, Tanja Ostojic und Vanessa Safavi. Jeder der Workshop-Teilnehmer hatte Gegenstände, Bilder, Texte oder Anekdoten parat, um daraus gemeinsam eine Begriffskonstellation zu erschaffen und den Raum mit sprachlichen Mitteln abzubilden. Das Gespräch dreht sich um die Begriffe Kunst, Stadtraum, Privatheit, Kommunikation, Ethik, Positionierung… Gesprochen wird vor allem darüber, dass jeder für sich den öffentlichen Raum auf verschiedene Arten wahrnimmt: Er wird geteilt, erlebt, durchquert, besetzt, es ist ein utopischer, alternativer Raum, der beschädigt, beherrscht und verändert wird, es ist ein realer oder fiktionaler Raum, virtuell oder auch nicht… Auf jeden Fall ist es ein Raum für individuelle oder kollektive Projektion. Nachfolgend ein Auszug der Gedanken und des Austauschs zu einigen der thematisierten Begriffe.

ANONYMITÄT.
Gestattet es der öffentliche Raum, die Identität eines Menschen auszulöschen, wenn er sich selbst oder durch ein Kunstwerk zur Schau stellt? Die Auslöschung wird von einigen als positiv empfunden (der Künstler als bloßer Übermittler einer höheren Botschaft), von anderen als negativ (Verschwinden der Einzigartigkeit). Gestattet es die ständige Zurschaustellung, auch durch die neuen Formen des sozialen Miteinanders, die Grenzen des Individuums zu erweitern und seine Sichtweise zu verbreiten? Oder geht vielmehr der Einzelne dadurch in der Masse unter? Die Nutzung eines sogenannten unpersönlichen Ortes – eines öffentlichen Platzes, einer Mauer, eines digitalen Mediums – kann das ganz Persönliche einer Sichtweise unterstreichen und umgekehrt. Es ist die Rede davon, „maskiert das Wort zu ergreifen“ und die möglichen Spannungen zwischen privat und öffentlich dazu zu nutzen, Offensichtliches und Verbote und Tabus gegen sich selbst zu kehren und so zu neuen Ansätzen zu gelangen. Es wird über Suzanne Lacy gesprochen und den Gedankengang der Künstlerin bei In Mourning and In Rage: von der Konzeption eines Ausdrucks in den Räumen einer Galerie über die Botschaft auf der Reklametafel bis zu Äußerungen auf der Straße von Teilnehmerinnen und Projektbeteiligten (https://www.youtube.com/watch?v=idK02tPdYV0).

TRANSPARENZ.
Wie kann man die riesigen digitalen Räume heutzutage eingrenzen? Begründen sie ein neues „menschliches Maß“ hinsichtlich der Privatsphäre, Messbarkeit und Erlebbarkeit? Die Künstler gehen auf diese Frage ein, sie bringen mögliche neue Vermischungen von privat und verschlossen, von offen und öffentlich ins Spiel. Es gibt eine hitzige Diskussion, als die Sprache auf das Berliner Projekt von Dries Verhoeven, Wanna Play?Love in Times of Grindr, kommt. Besonders betont werden unsere unterschiedlichen Auffassungen vom virtuellen Raum als öffentlichem Raum und die ideologischen Positionierungen, die dem zugrunde liegen. Die Bildschirme, die unseren Alltag beherrschen, und die dazugehörigen Apps und Programme lassen Verbindungen zwischen einer Vielzahl von Bereichen entstehen. Diese scheinen oft nichts miteinander zu tun zu haben und ihr Zusammentreffen hat gleichermaßen problematische wie faszinierende Folgen.

EIGENTUM.
Die schwierige Eigentumsfrage ist für die Definition des öffentlichen Raums von großer Bedeutung, da sie starken Einfluss darauf hat, wie wir einen Ort wahrnehmen: Wem gehört er? Wer ist dafür zuständig? Ist ein öffentlicher Raum ein Raum, der dem Staat gehört, oder gehört er im Gegenteil niemandem und somit allen? Es gibt privatisierte Räume im öffentlichen Raum, zum Beispiel Werbeflächen (http://www.referenceforbusiness.com/history2/59/JCDecaux-S-A.html). Eigentum ist auch eine gesetzliche Frage im Hinblick auf den freien Verkehr von Waren, Personen und Inhalten. Die Nutzung des Internet, Inbegriff des Freiraums, mag unseren Alltag revolutionieren, aber sie lässt auch Missbrauch zu, dem gesetzliche Strukturen kaum Einhalt gebieten können. Zu welchen Erkenntnissen führen fächerübergreifende Studien, die sich mit den Grenzen unseres Eigentums beschäftigen? Wie legt man die Grenzen dessen fest, was ein Kunstwerk als Phänomen ausmacht?

WIRKUNG.
Ausgehend vom heute herrschenden Kapitalismus ist es nur konsequent, wenn man den neuen Anforderungen zum Teilen des öffentlichen Raumes Rechnung trägt. Jeder punktuelle oder dauerhafte Beitrag hinterlässt Spuren. Wie überträgt man die Wirkung künstlerisch-sozialer Themen auf diesen Raum, der praktisch nie vollkommen frei, vollkommen umsonst oder vollkommen verfügbar ist? Die Installation von Aude Pariset 3 days after; Adeus, Ćao in einem halb leerstehenden Einkaufszentrum in Nevers wirft viele Fragen über das Wesen dieses Raums auf, der zwar privaten Unternehmen gehört, jedoch per definitionem auch ein öffentlicher Raum ist (vor allem als Ort der Repräsentation und des Zusammentreffens). Wenn wir davon ausgehen, dass jede Kunst auf Wirkung abzielt, ist es interessant, Vorgehensweisen zu beobachten, die im kulturellen Kontext aufgehen und sehr zurückhaltend sind, um nicht zu sagen: kaum wahrnehmbar oder unsichtbar. Sie verwirren die „Nutzer“ (Passanten, Zuschauer usw.), wenn sie die Form von Werbung oder funktionaler Architektur annehmen, um deren Doppeldeutigkeit zu betonen.

FREIHEIT.
Der Event-Charakter von Kunst im öffentlichen Raum wird immer wichtiger. Zum operationalen Vorgehen bei einem Kunstwerk gehört deshalb oft die Planung der Wirkung. Zweck dieser Planung kann die Eroberung oder Rückeroberung eines Ortes oder eines Publikums sein. Dieser Aspekt trübt die romantische Auffassung, dass der öffentliche Raum ein Ort sei, an dem die Freiheit der Meinung und des Ausdrucks zum Tragen kommen kann – oder muss. Das betrifft nicht die Äußerungen etablierter Machthaber, sondern individuelle und spontane Äußerungen. Die Bedingungen für die Entstehung von Kunstwerken, die von den Institutionen, die sie ermöglichen, definiert werden, tragen entschieden dazu bei, inwiefern wir den öffentlichen Raum als Freiraum wahrnehmen. Wenn eine Aktion explizit als Kunstwerk angekündigt wird oder im Verdacht steht, Kunst zu sein, ist ihre Wirkung dann in Frage gestellt? Eine Aktion hat als Bestandteil eines Kunstprogramms schließlich einen anderen Sinn, als wenn sie spontan im Alltag erfolgt. Manche Handlungen verlassen deshalb bewusst den Kunstbereich und lassen sich z. B. eher dem Aktivismus zuordnen. Es stellt sich daraufhin die Frage, wie das Projekt zu bewerten sei, wenn es im Kunstbereich wiederholt würde. Raivo Puusemps Projekt Beyond Art – Dissolution of Rosendale ist in verschiedener Hinsicht interessant. Der Künstler hat sich dafür entschieden, als Bürger in einem politischen Kontext aufzutreten und seine Aktion dabei im Einklang mit seiner konzeptuellen Praxis zu gestalten. Die schwierige Zuordnung dieses Beitrags zu einem bestimmten Bereich, zu einem bestimmten Raum (der Auftritt findet überwiegend, aber nicht ausschließlich im sprachlichen Raum statt) ist eine Grundvoraussetzung für das Projekt. Es wird betont, dass es notwendig sei, Zuordnungen und genaue Begrenzungen von Räumen und Konzepten zu vermeiden, denn je mehr man sich mit einem Objekt befasst, desto schwieriger wird es, seine Umrisse zu erkennen, wie Ariella Azoulay in ihrer Studie über den Begriff Revolution schreibt (http://www.politicalconcepts.org/revolution-ariella-azoulay/). Diese Schwierigkeit zeugt von der Komplexität des Objekts als solchem.

TRANSIT.
Wenn die Besetzung des öffentlichen Raumes einer festen Spielregel gehorcht, dann könnte eine Transit-Situation, ein Zwischenraum, ein Übergang eine passende Gegebenheit für die Schaffung eines Werkes mit gesellschaftlichem Bezug sein. Diese Form ist jedoch schwer zu erfassen und einzugrenzen, und die Aneignung lässt sich nur schwer bestimmen und das Eigentum unmöglich zuordnen. Wer kann einen Zwischenraum, einen beweglichen Raum für sich beanspruchen? Es steht allerdings fest, dass sich in einem Übergangsbereich immer die Frage nach der Zugehörigkeit und dem Eigentum stellt, in praktischer wie symbolischer Hinsicht. Beispiele aus der Politik zeigen, dass Übergangsbereiche oftmals Konfliktherde sind. Der Konflikt ist für Künstler eine fruchtbare Art der Begegnung, und wie Chantal Mouffe in einem Interview mit Markus Miessen sagt: „Wir müssen die allenthalben herrschende Einigkeit aufbrechen und zur Dynamik des Konfliktes zurückkehren.“ Es kann deshalb nicht nur darum gehen, einen Transitraum zu besetzen, es müssen vor allem Übergangsbereiche geschaffen werden, eine Art Niemandsland. Wie wird sich der Diskurs in einem Raum ohne spezifische, feststehende Eigenschaften entwickeln?

Céline Poulin

Céline Poulin (*1978) arbeitet seit 2004 als unabhängige Kuratorin und ist seit Juni 2010 für das Programm „Hors les murs“ des Parc Saint Léger zuständig. Dort verantwortete sie verschiedene Projekte wie zum Beispiel „Traucum” (2014), „Minusubliminus“ (2011) in Zusammenarbeit mit dem Museum Loire in Cosne-Cours-sur-Loire) sowie „Triangulation“ (2013) von Alejandro Cesarco in Kooperation mit dem Frac Bourgogne und dem Centre culturel de rencontre von Charité sur Loire.
In ihren Projekten experimentiert Céline Poulin vermittels verschiedener Arbeitsprozesse zu den Themen Bild, Wunsch und Wissen. Durch einen reflexiven  Ansatz befragt sie das Display und die Zusammenarbeit, die jedem Projekt zugrunde liegen.
2013 organisierte sie das Programm „Brigadoon“ in Clermont-Ferrand und im Jahr 2009 und 2010 „Les belles images“ in der Box (Bourges). Innerhalb des von von ihr mitgegründeten Kollektivs le Bureau/ forscht Céline Poulin zur kuratorischen Praxis und initiierte zahlreiche Ausstellungen in unterschiedlichen Strukturen: Darunter La Villa du Parc (Annemasse) in Zusammenarbeit mit dem Mamco, Casino (Luxembourg), Galerie Klemm’s (Berlin), La Synagogue (Delme) sowie Les Laboratoires d’Aubervilliers in Kooperation mit dem Fond National d’Art Contemporain oder in Zusammenarbeit mit dem Institut français („In Extenso – Erweitert | Public Space“, DAZ (Berlin), „Uchronie, des récits de collections“ (Klatovy, Prag) und in Arc-et-Senans in Zusammenarbeit mit  Frac Franche-Comté).
Ihre Arbeiten hält Céline Poulin in Veröffentlichungen fest: www.brigadoon.me (2014), „Micro-séminaire“, édition Parc Saint Léger (2013), „Stellatopia“, édition Parc Saint Léger (2012), „Mecca Nouement“, édition du Crédac (2011), www.lesbellesimages.net (2010), „Un plan simple“, édition B42 (2010) „Mecca Formes souterraines, une géométrie organique“, édition du Crédac (2009).

Céline Poulin ist Mitglied des Verwaltungsrats des Kuratorenvereins c-e-a und der IKT (International Association of Curators of Contemporary Art).