Social Context

Kunst und Architektur reagieren auf den gegebenen sozialen und kulturellen Kontext. Ist es dennoch möglich dieses Verhältnis umzukehren und den Kontext erst zu erschaffen?

KarimaBoudou_1_CreditMarlenMueller

Photographie: Marlen Müller

die Arbeit der französischen Kuratorin Karima Boudou bewegt sich vor dem Hintergrund, dass Kunst und Architektur im Verhältnis zu ihren spezifischen sozialen und kulturellen Kontexten existieren. Demensprechend geht sie von einem unmittelbaren Einfluss sozialer Begebenheiten auf Darstellungen und auf künstlerische Praktiken aus. Diese Annahme stellt in ihrer kuratorischen Praxis jedoch weniger ein Thema an sich dar, als ein Werkzeug, mit dem sie sich ihren Projekten, den Ausstellungen und involvierten Künstlern sowie Kunstwerken nähert. Um diese Annahmen und ihre Arbeitsweise zu diskutieren und hinsichtlich des Individuums zu untersuchen, lädt Karima Boudou die Architektin Laurence Kimmel und den Künstler, Dichter und Schriftsteller Jimmie Durham an den Y-Tisch des DAZ. Gemeinsam werden sie sich den Fragen nähern, wie soziale und politische Prozesse unsere Beziehung zur Umwelt definieren, wie Ästhetik und Architektur darauf reagieren können und wie dies die Idee von uns selbst beeinflusst.

Talk In Extenso – Erweitert: Social Context

Trailer In Extenso – Erweitert: Social Context

Arte Creative – Interview avec Karima Boudou

“Neue Kuratoren braucht das Land Neue Kuratoren braucht das Land: Das deutsch-französische Programm fördert den Nachwuchs”

In einem Interview mit ARTE Creative erzählt Karima Boudou über ihre Arbeit als Kuratorin und über das Projekt In Extenso – Erweitert.

Vier Fragen an Karima Boudou

Wie würdest Du den Begriff von „Social Context“ definieren?
Wie jeglicher Kommunikationsprozess nimmt Kunst im sozialen Rahmen Gestalt an und wird sichtbar gemacht. Es gibt dementsprechend einen unmittelbaren Einfluss sozialer Begebenheiten auf Darstellungen und auf künstlerische Praktiken. Diese Frage erinnert mich an eine Geschichte, die Jimmie Durham in seinem Essay Report to Molly Spotted Elk and Josephine Baker über den Künstler David Hammons erzählt. In den 80er Jahren stellt Hammons in Washington D.C. die Büste Jesse Jacksons mit dem Titel How Do You Like Me Now? aus, die ihn als weißen Mann mit blauen Augen und blonden Haaren darstellt. Die Reaktion der Afro-Amerikanischen Community ließ nicht lange auf sich warten – Das Werk galt als Beleidigung Jacksons. Hammons wollte im Rahmen einer Ausstellung zum Thema Moderne und Afro-Amerikanischer Kultur einen Kommentar zum Unterschied zwischen der Generation des Civil Right Movements und der aufgehenden Hip-Hop-Generation abgeben (der Slogan “How Ya Like Me Now?” entspringt der Rap-Ikone Kool Moe Dee der 80er). Dieses Beispiel zeigt, welche Antwort ein Künstler auf ein kontroverses soziales Problem geben kann, indem er soziale Normen kritisiert. Der Geschichte Jimmie Durhams über seinen Freund David Hammons liegt eine Untersuchung zugrunde, die Kunstgeschichte sowie soziale, politische und geschichtliche Überlegungen miteinbezieht. Dabei steht fest, dass der Künstler keine oder kaum Kontrolle auf die Rezeption seines Werks ausüben kann.

David Hammons, How ya like me now?, 1988

David Hammons, How ya like me now?, 1988

Inwiefern bezieht sich deine Arbeit als Kuratorin auf „Social Context“, das Thema, das du im Rahmen des Projekts In Extenso behandeln wirst?
Aus pragmatischer Sicht, knüpfe ich in meiner Arbeit an dieses Thema an, da ich gerne persönlich mit Künstlern arbeite und neue Projekte für einen spezifischen Raum entwickle. Dieses Projekt stellt auch eine Herausforderung dar, weil zeitliche, finanzielle, räumliche und logistische Beschränkungen gegeben sind. Es ist zugleich auch befriedigend, da die Möglichkeit besteht, tiefgreifende Recherchen anzustellen und die Ergebnisse anschliessend in einer Ausstellung oder in einer Veröffentlichung festzuhalten. „Social Context“ ist für mich eher eine Komponente, ein Werkzeug zum Verständnis für meine Projekte und nicht an sich ein Thema oder eine Spezialisierung. Durch die Analyse des politischen und sozialen Kontexts stütze ich mich mithilfe der Werkzeuge eines Kunsthistorikers in den Ausstellungen auf dieses Feld. Diese Arbeitsweise ermöglicht mir eine ausführliche Kontextualisierung jeden Projektes und erlaubt das Spiel mit der Erzählung, die Zerteilung und Neuzusammensetzung der Informationen, um zentrale Fragestellungen und Problematiken zum Vorschein zu bringen. Unsere politische Meinung und unsere soziale Schicht beeinflussen unsere Forschung und unsere Interpretation der Ergebnisse. Das politische Klima und die Funktionsweise unserer Gesellschaft, wie z.B. im oben beschriebenen Fall Hammons determinieren, wie die Informationen eines „Social Context“ interpretiert werden und sich in einem Werk verkörpern. Diese Herausforderungen verdoppeln sich in meiner Arbeit: Sie existieren im Werk des Künstlers und im Kontext der Ausstellung. Es erscheint mir jedoch unabdinglich das Gleichgewicht zwischen einer formalistischen Herangehensweise (Analyse der plastischen Qualitäten des Werks) und der Beziehung zu einer Art Verpflichtung des Künstlers beizubehalten. Angewandt auf Architektur kann ein spannender Bezug zum Begriff des Fortschritts eingebunden werden. Wie kann Architektur eine Sprache sein, die diese Idee unterstützt? Wie kann diese Sprache wiederum kritisiert werden, z.B. durch die Entropie oder den Begriff der „Anti-Architektur“ Jimmie Durhams?
Was bedeutet es heutzutage, eine Kuratorin zu sein? Wie würdest Du die Rolle des Kurators in unserer Gesellschaft beschreiben?
Die Rollen, die ein Kurator einnimmt und die Kompetenzen, die seine Tätigkeit erfordern sind sehr breit gefächert und verändern sich je nach Kontext. Jenseits der Entscheidungen die getroffen werden, wohnt meiner Ansicht nach diesem Beruf eine wesentliche soziale und politische Rolle inne, die allein durch das Wissen über kulturelle, soziale und politische Geschichte eingenommen werden kann. Dies erfordert für Künstler und für Kuratoren einen Balance-Akt zwischen kultureller Verpflichtung und Gestaltungs- und Gedankenfreiheit. Außerdem meine ich, dass der Künstler in der Beziehung Kurator-Künstler die vorrangige Position einnimmt. Ich erlaube einem Künstler gerne sein Projekt genau so zu realisieren, wie er es sich vorstellt – selbstverständlich stets im Rahmen der finanziellen und logistischen Möglichkeiten. Meine Rolle ist die eines Vermittlers- Warum sollte man sonst diese Tätigkeit ausüben? Diese Beziehung verändert sich jedoch, wenn sich eine Ausstellung um das Werk verstorbener Künstler dreht. Dies war z.B. 2013 im De Appel der Fall, als ich in Zusammenarbeit mit anderen Kuratoren anhand von Werken aus der Region Nordbrabant die Nachkriegszeit verhandelte.
Welchen Beitrag leistet ein Programm wie Jeunes Commissaires mit einem Projekt wie In Extenso zu deiner Arbeit?
Das Format und die Beschaffenheit des Projektes In Extenso bieten einen Spiel- und Experimentierraum, der es mir erlaubt, Ideen und Denkweisen auszutesten, die in einer „traditionellen“ Ausstellung nicht unbedingt möglich gewesen wären. Jenseits der Frage nach der Beziehung zwischen Kunst und Architektur ermöglicht diese Herangehensweise das Arbeiten in verschiedenen Schritten und erlaubt, insbesondere die Legitimität und das Wesen des Bezuges zwischen diesen beiden Fachgebieten in Frage zu stellen- Durch Problematiken, die an einer etablierten Gesellschaftsordnung rütteln. Daneben gehe ich davon aus, dass dieses Projekt eine Austausch- und Diskussionsplattform ermöglicht, die langfristig den Ideenaustausch belebt. Da ich meine Inspirationen größtenteils außerhalb der zeitgenössischen Kunst suche und finde, bietet dieses Projekt für meine laufenden Forschungen ein probates Format.

Workshop Social Context

Freitag, den 26. September 2014

Workshop In Extenso – Erweitert : Sozialer Kontext, 25. September 2014 im Deutschen Architektur Zentrum, mit:

– Karima Boudou, Kuratorin
– Jörg Stollmann, Architekt und Professor
– Bani Abidi, Künstlerin
– Cathy Larqué, Leiterin des Bureau des arts plastiques
– Matthias Böttger, Kurator im Deutschen Architektur Zentrum

Die Kunstgeschichte ist eine Ballung von Räumen. Wie die Einzelteile einer Uhr wird jedes Monument vorsichtig dort platziert, und das, was es erzählt, dreht sich immerzu um die Künstler und deren Hintergrund. Man meint, den Werken der Künstler viel Sinnhaftigkeit verleihen zu können, indem man sie bestimmten Stätten, Räumen und Orten zuordnet: Herkunftsort und Exil, privater und öffentlicher Raum, soziales und politisches Umfeld, Ort des Austauschs und des Handels, Grenzen der Ethik und des Urteils, akademischer und institutioneller Bereich, Grenzen zwischen Mainstream und Underground, in situ und ex situ.

Die Benennung dieser Räume wird oft verbunden mit Schulen und Stilen, mit Netzwerken und Einzelpersonen, mit bestimmten Gegenständen und kurzen oder langen Geschichten. Indem man versucht, den „Werdegang“ eines Künstlers nachzuzeichnen, glaubt man besser zu verstehen, was ihn geformt hat und was ihn zu seiner Kunst veranlasst hat. Indem man sich seinem „Herkunftsort“ nähert, glaubt man, seinen Ausgangspunkt eingrenzen zu können.

Was aber, wenn der Künstler eine widersprüchliche, nicht kontinuierliche Beziehung zu seiner Herkunftsstätte hat? Die pakistanische Künstlerin Bani Abidi schleudert uns mit ihren engagierten Fotos und Videos in labyrinthartige, zerstörte oder verlassene Räume. Ihre Arbeit – eine Mischung aus Performance, Fiktion und Dokumentation – lädt zum Nachdenken ein über kolonisierte, geteilte, im Konflikt befindliche oder gar zerstörte Länder und deren Bezug zu den Massenmedien. Es stellt sich die Frage danach, wie ein Bezug zwischen der Kunst und dem Ort entstehen kann. Wir folgen einem Mann durch eine Kino-Ruine. Wir stehen in einer Schlange mit Menschen, die geduldig darauf warten, kontrolliert zu werden. Das Temporäre eines jeden Ortes, die Endlichkeit der architektonischen und menschlichen Räume werden so verdeutlicht.

Der Architekt Jörg Stollmann regt an, sich mit den Räumen zu befassen, die dem Künstler eigen sind: mit dem biografischen Kontext des Autors und dem Kontext, indem er sein Werk ansiedelt. Es stellt sich dabei die Frage nach ihrer Funktion im Prozess der Neuerung. Welchen Anteil hat die Erfahrung an der Schaffung eines neuen Produktes oder Ortes? Die Kunst, wie auch die Architektur, erscheint als geeignetes Mittel, die vermeintlich perfekte Gleichung vom Raum und Kausalität ins Wanken zu bringen: hinsichtlich der persönlichen und historischen Biografien ebenso wie hinsichtlich der Rezeption von Interventionen in einem speziellen Kontext.

Die Kuratorin Karima Boudou äußert den – modernistischen – Begriff des Monuments, vertikal und fest, im Hinblick auf die Möglichkeit für den Zuschauer oder „Nutzer“, sich in ein Kunstwerk einzubringen. Es stellt sich folgende Frage: Wie schafft man Einmischungsmöglichkeiten für den Menschen, die sich nicht nur auf den künstlerischen Raum auswirken, sondern auch auf das Leben in einer Stadt, einer Gesellschaft, einer Bevölkerung? Indem Boudou den amerikanischen Künstler David Hammons als Beispiel anführt, betont sie, dass ein Zusammenbruch – oder zumindest eine Neuorganisation – der Vormachtstellung des Monuments durch künstlerisches oder architektonisches Wirken möglich ist, und dass die verschiedenen Sprachen, die ein Werk umgeben, dem Teilen dienen, zum Verstehen einladen und vielleicht auch zur Teilhabe am Diskurs. Es wird angemerkt, dass der Begriff Kontext niemals als gesichert und transparent gelten kann, ebenso wenig wie die zahlreichen Macht- und Einflussmechanismen, die man mit einem Ort verbindet, wie z.B. Gefühle, Institutionen, Politik, Kommerz.

Dem privaten Raum, als Gegenpart zum „öffentlichen“ Raum, kommt bei der Betrachtung des sozialen Raums im Allgemeinen eine besondere Bedeutung zu. Traditionell wird diesem eher hermetischen privaten, häuslichen Raum der öffentliche Raum entgegengesetzt, dem – zusammen mit den Architekten und Stadtplanern – die Aufgabe zukommt, der Zivilgesellschaft eine Form, einen Raum zu geben und sie zu repräsentieren. Gleichzeitig ist es Aufgabe des privaten, bürgerlichen Raumes, die Familie mit ihren Hierarchien zu schützen oder gar zu idealisieren. Die typischen Vorstadt-Wohnviertel sind das beste Beispiel für dieses Konzept; sie liegen isoliert am Rand der chaotischen Stadt und geben sozialen Problemen (Schicht, Herkunft, Rasse) auf diese Weise Form, Raum und Zeit.

Ob diese typische Struktur heute noch Bestand hat, ist zu bezweifeln. Durch das Streben nach wirtschaftlichem Gewinn zieht es den Einzelnen eher in das Stadtzentrum als an den Stadtrand, da er dort am städtischen, kosmopolitischen Leben der Gesellschaft teilhat. Karima Boudou merkt hierzu an, dass man beobachten muss, wie diese Dynamiken es den Künstlern ermöglichen – oder erschweren – ihr Wirken in das Leben der Gesellschaft zu integrieren. Jörg Stollmann ergänzt, dass diese Feststellung auch für Stadtplaner und Architekten gilt.

Die Zuteilung von Räumen an Gemeinden gehorcht oftmals politischen und moralischen Strukturen und wird von einem mehr oder weniger starken Wunsch nach Kontrolle genährt. Man will die verschiedenen Gruppen in ihren jeweiligen Räumen verortet wissen und ihre Ausbreitung regulieren können. Der Mehrdeutigkeit einer jeden Struktur, eines jeden Ortes wird nur wenig Raum gegeben, oft zugunsten eines völlig unangebrachten Oberflächen-Formalismus.

Auf kritische Weise beschäftigten sich in den Siebzigerjahren die Strömungen der „Earth Art“ oder „Land Art“ mit dieser Frage. Sie gingen entschieden die Probleme der site-specific art und des konzeptuellen Wirkens allgemein an. Sie ermutigten die Künstler, den Reichtum der Natur und der Rohstoffe zu nutzen, Landkarten, Landschaften und deren Bewohner mit einzubeziehen.

Es zeigt sich heute wieder, dass Kunst und Künstler und vergleichbar auch Architektur und Architekten Körper und Räume besser miteinander verbinden könnten, wenn makroskopische Umweltparameter und die persönliche Erfahrung des Einzelnen in die kuratorische Tätigkeit einfließen.

Karima Boudou zitiert Laurence Kimmel, die den zeitgenössischen Tanz als eine „Abfolge von Ungleichgewichten“ beschreibt. Wäre es da nicht vielleicht an der Zeit, nach einer „Revolution in Bewegung“ zu streben? So könnte man an allem teilhaben, was in der weiten Welt vorgeht, ohne vorrangig über konkrete Interpretationen nachzudenken. Und würden Künstler und Architekten, wenn man neue Anziehungspunkte und neue Ungleichgewichte schafft, nicht eher versuchen, vor allem unsere sozialen Wahrnehmungen zu verändern, anstatt neue Objekte zu konzipieren, und so neue Kontexte entdecken?

Bild: David Hammons, Shoe Tree, 1981
Text: Jeanne-Salomé Rochat

Karima Boudou

Karima Boudou (*1987) arbeitet derzeit als unabhängige Kuratorin in Frankreich und in Marokko. Sie studierte Kunstgeschichte in Montpellier und Rennes sowie Philosophie in Nanterre, Frankreich. Anschließend absolvierte sie 2012-2013 das De Appel Curatorial Programme in Amsterdam. 2011 war sie Mitbegründerin des unabhängigen Kuratoren-Kollektiv DIS/PARERE. Sie initiierte in Marokko die Struktur AGENCE, die Projekte zu den Themen Wirtschaft und Autorschaft entwickelt. Sie trägt dem Magazin Contemporary And bei und führt daneben unabhängige Forschungsprojekte in Marokko. Zuletzt kuratierte sie eine Einzelausstellung von Donnelle Woolford, die im Rahmen der Marrakech Biennale 2014 präsentiert wurde.

Sie kuratierte u.a. die folgenden Ausstellungen: À la recherche de l’exposition présente (2012, Frac Bretagne, Rennes), Bourgeois Leftovers (2013, de Appel Arts Centre), Ce lieu n’est pas la maison de Descartes (2013, Institut Français des Pays-­Bas, Amsterdam), Le Signe Route (2013, L’appartement 22, Rabat), Performer, Artisan, Narrator (Donelle Woolford, 2014, Biennale de Marrakech, Marrakech), You can delete any comment that you create (2014, InBetween, Bruxelles).