Lucile Bouvard: Berlin Art Week 2018

Empfehlungen für die diesjährige Berlin Art Week von Lucile Bouvard, freie Kuratorin in Berlin

Foto: Katharina Kritzler, Berlin

Alle Jahre wieder bietet die Berlin Art Week einen nochmals verdichteten Ausschnitt im Bereich der bereits sehr dichten zeitgenössischen Berliner Kunstszene. Beim Durchsehen der Programme der einzelnen Locations und Institutionen fällt auf, dass auch die neue Ausgabe nicht mit der Regel bricht und erneut eine Fülle an Ausstellungen, Diskussionen und Veranstaltungen verspricht. Anstatt sich in einem strapaziösen Marathon zu verlieren, schlage ich deshalb vor, die Besichtigungen auf ein paar Orte zu beschränken, die relevante Reflexionen zu den sozio-politischen Herausforderungen unserer Zeit und zu den unterschiedlichen Formaten der Präsentation von Kunst aufwerfen.

Ich würde meine Tour in Wedding im Norden der Stadt beginnen, das seit den Niederlassungen von Archive Kabinett und SAVVY Contemporary dort vor ein paar Jahren, und kürzlicher von gr_und, eine neue Dynamik erfährt. Dank der Programmation durch Solvej Helweg Ovesen und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung trägt seit 2015 auch die Galerie Wedding zu diesem neuen Elan bei. Ab September ist Duk Hee Jordans Ausstellung Ziggy on the Land of Drunken Trees da zu sehen. Von der Meeresbiologie und vom Tauchen fasziniert, verwandelt Jordan die Galerie in eine von robotisierten Geschöpfen bewohnten Unterwasserwelt, die in einem post-humanen Zeitalter nach dem Anthropozän zu verorten ist. Anhand dieses spekulativen Narrativs unterstreicht die Künstlerin die konkreten Auswirkungen menschlichen Handelns und der Klimaerwärmung auf die Meere und das weltweite ökologische Gleichgewicht. Ihr Zugang zu den Themen ist dabei, wie in vielen anderen ihrer Arbeiten, ein von Humor und Poesie geprägter.

Anne Duk Hee Jordan, Ziggy and the Land of Drunken Trees, 2018, Fotokollage verschiedener Skulpturen, Courtesy die Künstlerin

Zwischen dem 26. und dem 29. September veranstalten die Kurator_innen der Galerie zudem ein Symposium unter dem Titel Unsustainable Privileges. In mehreren Panel-Diskussionen werden die Entstehung und Neuverteilung der Privilegien, die sich durch die dominierenden Strukturen des Kapitalismus, Patriarchats und Rassismus selbst erhalten, hinterfragt. Im Anschluss an die erste Gesprächsrunde am 26. findet eine Verkostung des Bieres Beast of No Nation statt, Ergebnis eines Rechercheprojekts des Künstlers Emeka Ogboh. Das in Wedding produzierte Bier, so die begleitende Marketingkampagne, spiegelt in seinem Geschmack und seinen Slogans den spezifischen Charakter des Viertels wider: ein Chaos mit bitter-süßen Akzenten.

In Wedding würde ich unbedingt auch noch ins SAVVY Contemporary, seit mehreren Jahren mit seinem reichen und zielsicheren Programm ein absolutes Muss. Die von Antonia Alampi und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung konzipierte Herbstausstellung Geographies of Imagination ist Teil eines ambitionierten Gemeinschaftsprojekts zur Dekonstruktion von Stigmatisierungspraktiken des Anderen in europäischen Kulturinstitutionen: Dis-Othering: Beyond Afropolitan and Other Labels. Das Projekt vereint eine Ausstellungsreihe, Residenzen, Vorträge und Workshops in Berlin, Brüssel, Wien und Warschau. Im Rahmen des Zyklus thematisiert die Ausstellung Geographies of Imagination Geografie als Machtinstrument und ihre Rolle in der Konstruktion dieses Distanzierungs- und Ausgrenzungsprozesses. Die Ausstellung streicht diese in den aktuellen aufstrebenden populistischen Strömungen wieder stark artikulierten Ängste heraus. SAVVY präsentiert hier abermals eine herausragende Liste an Künstler_innen, die sonst in Berlin leider nur zu selten gezeigt werden.

In Mitte würde ich keinesfalls das sechste Kapitel der vom Kollektiv Karma Ltd. Extended kuratierten Programmreihe im ACUD MACHT NEU verpassen. Das Kollektiv setzt sich aus Pauline Doutreluingne, Jana J. Haeckel und Petra Poelzl zusammen. Seit einem Jahr arbeiten sie nun bereits mit sozialem, politischem und feministischem Engagement auf inspirierende Art und Weise an diesem interdisziplinären Projekt. Der nach Georges Perecs Roman Espèces d’espaces aus dem Jahre 1974 benannte neue Abschnitt Species of spaces vereint Künstler_innen und Performer_innen rund um die titelkonstituierenden Begriffe. Darunter der Künstler Lawrence Abu Hamdan, der im Rahmen der Kunst- und Architekturagentur Forensic Architecture forscht und dessen Arbeit die politischen, religiösen und juridischen Implikationen des Zuhörens, von Klang und von Stimme untersucht. Die Videoarbeit The All-Hearing (2014) reflektiert die Themen der Lärmverschmutzung und Redefreiheit in Kairo. Neben seinem Beitrag in Species of spaces, wird seine neue Videoarbeit Walled Unwalled (2018) in der DAAD-Galerie im Herzen von Kreuzberg gezeigt.

Lawrence Abu Hamdan, The All-Hearing, 2014, Videostill

Nur ein paar Straßen weiter zeigt The Shelf die diesjährigen neun Nominierten des Berlin Art Prize. Der Preis wurde 2013 als Alternative zu den bestehenden, oftmals sehr einseitigen und dem Kunstmarkt sehr nahestehenden Auszeichnungen eingeführt. Er wird in einem anonymen Verfahren ermittelt und steht allen in Berlin lebenden Künstler_innen offen. Die Ausstellung wird von einem Performance- und Vortragsprogramm begleitet und endet mit dem Abend der Verleihung am 28. September.

Lorenzo Sandoval, Shadow Writing (What is it that makes algorithms so different, so appealing?), 2018, Berlin Art Prize 2018, Foto: Anastasia Muna

Noch immer in Kreuzberg, würde ich den kleinen Umweg über das von den Künstlern Sol Calero et Christopher Kline gegründete Kinderhook & Caracas machen. Für den Saisonstart haben die beiden den peruanischen Projektraum Bisagra eingeladen, das kollaborative Projekt Fashion Week vorzustellen, bei dem Künstler_innen aus Lima und aus Berlin zusammenarbeiten. Die Gelegenheit würde ich außerdem dazu nutzen, mir im Decad noch die schöne Videoinstallation der niederländischen Künstlerin Dorine van Meel anzusehen. Anhand eines Streams generierter und abstrahierter Bilder von historisch mit dem Imperialismus und Kolonialismus verknüpften Orten hinterfragt van Meel die Konstruktion von Nationalitäten wie die daraus resultierende und sich bis in die kleinsten Aspekte des Alltags weiterziehende Gewalt. Ich würde dann noch ein wenig weiter östlich Richtung Neukölln ins TIER.space, eine Fortführung des Projekts The Institute for Endotic Research. Von den Künstlern und Kuratoren Lorenzo Sandoval und Benjamin Busch geführt, findet sich nun im neuen Raum das lange ohne festen Sitz agierende transdisziplinäre Format TIER. Für die Berlin Art Week zeigen die Kuratoren eine Intervention des Künstlers und Forschers Luis Berríos-Negrón.

Weiter in Neukölln bespielen die Messen Art Berlin und Positions die Hangars des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Die Art Berlin, seit letztem Jahr unter der Trägerschaft der Organisatoren der Art Cologne, führt dieses Jahr den Salon neu ein, der im ersten Jahr von Tenzing Barshee kuratiert wird. Er zeigt darin unter anderen von den französischen Galerien Air de Paris, Antoine Levi, Sultana, Freedman Fitzpatrick, Sundogs und High Art vertretene Künstler_innen. Zudem ist die französischen Balice Hertling bei der Art Berlin vertreten.

Und zugleich steht die Berlin Art Week auch für die allerletzten Tage der Bar Babette im historischen Gebäude in der Karl Marx Allee in Mitte. Sie war Ort er Begegnung und Treffpunkt vieler Leute aus der Berliner Kunstszene. Bis zum Beginn eines neuen Kapitels plant der Künstler und Initiator der Babette Maik Schierloch noch vier Ausstellungen an vier Abenden. Ich empfehle unbedingt da vorbeizuschauen, um sich nochmals die Atmosphäre dieses emblematischen Ortes und des Viertels einzuprägen.

Bar Babette, Foto: Amélie Losier

Was die Institutionen betrifft, empfehle ich die Ausstellung von Julian Charrière zum Gasag Kunstpreis 2018 in der Berlinischen Galerie. Kürzlich in der Ausstellung Le Rêve des formes im Palais de Tokyo vertreten, geht er hier auf die seit 1946 durch die Vereinten Staaten durchgeführten nuklearen Versuchsreihen im Bikini-Atoll und ihre Auswirkungen auf das lokale Ökosystem zurück. Eine Muss: seine Performance im Berghain, der von Mythen umworbene Berliner Club, am Abend des 26. September.

Julian Charrière, As We Used to Float, USS Saratoga, 2016, © Julian Charrière, VG Bild-Kunst, Bonn 2018

Und noch zwei Ausstellungen, die man keinesfalls verpassen sollte: Adrian Pipers Ausstellung in der Akademie der Künste am Pariser Platz und The Most Dangerous Game im Haus der Kulturen der Welt. Die Käthe-Kollwitz-Preisträgerin 2018 Adrian Piper zeigt drei autobiografisch geprägte Installationen, die in Bezug zu ihrem Umzug 2005 nach Berlin und dem Ankommen in einem neuen Land stehen. The Most Dangerous Game befasst sich mit der Geschichte der Situationistischen Internationale und seiner Spaltung 1962, als sich die Bewegung von seinen künstlerischen Mitgliedern distanzierte, um ausschließlich politisch zu agieren. Ausgehend von der von Asger Jorn 1959 initiierten Bibliothèque situationniste de Silkeborg geht die Ausstellung der Aktivitäten der Internationalen Situationisten bis zu den Ereignissen im Mai 1968 nach.

Und schließlich hier angekommen, bieten sich noch weitere Wahlmöglichkeiten an, den Ausstellungsrundgang ausklingen zu lassen: entlang der Spree spazieren, sich im Tiergarten verlieren oder sich im Teehaus im Englischen Garten fallen lassen…


Lucile Bouvard ist freie Kuratorin und Studio-Managerin in Berlin. Zur ihren jüngsten Projekten zählen die Ausstellung / interf ∆ ce(s) /, Tales of Babel im Haus am Lützowplatz (Berlin) 2017 und die Publikation Bicéphale: ein experimentelles Format zwischen Künstlerbuch und Bildessay, die die Arbeiten der beiden Künstlerinnen Marion Andrieu und Zora Mann zusammenführt. Ihre Texte wurden in der revue 02 und bei Berlin Art Link veröffentlicht. Derzeit arbeitet sie an einer Ausstellung als Hommage an die Aktivitäten der Bar Babette und ihre Rolle in der Berliner Szene, die während der Berlin Art Week zu sehen ist.