Ausstellungen in Paris, die man Herbst/Winter nicht verpassen sollte

Stephanie Weber hat am vom Institut français veranstalteten FOCUS-Kuratorenprogramm teilgenommen, bei dem sie neben die FIAC 2017 in Paris auch die Biennale von Lyon besuchte. Hier sind Ihre Tipps.

© Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München

© Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau München

Als Studentin verkörperte Paris für mich die Kunst des 19. Jahrhunderts (und natürlich fabelhafte Cafés und Rotwein), wo man die Werke Henry de Toulouse Lautrecs, Edouard Manets oder Gustave Courbets sehen konnte. Heute zieht es mich, wenn ich dort bin, auch noch zum Musée d’Orsay oder in das Musée Gustave Moreau, doch inzwischen gibt es in Paris einen wahren Wust an sehenswerten Orten für zeitgenössische Kunst und Kreation.

Das Focus Programm des Institut français (ein internationales Kuratorenprogramm, an dem ich in diesem Jahr teilgenommen habe) hat uns an viele Orte gebracht, die ich immer schon hatte besuchen wollen und zusätzlich zu unserem straffen Tagesprogramm gab es abends noch viel mehr zu sehen.

 

Le Bal, Clément Cogitore

© Clément Cogitore / ADAGP, Paris 2017

© Clément Cogitore / ADAGP, Paris 2017

Der Geheimtipp, der keiner sein sollte: Das Programm des 2010 von Raymond Depardon und Diane Dufour gegründeten Kunstzentrums fußt auf einem erweiterten zeitgenössischen Fotografie- und Bildbegriff. Le Bals Devise „Das Bild als Dokument zeitgenössischer Realität“ steht auch für eine politische Dimension des hier Verhandelten.

Die (wahre) Geschichte, die Clément Cogitore in seiner Ausstellung Braguino ou La communauté impossible (Braguino oder Die unmögliche Gemeinschaft) erzählt, erinnert an Shakespeares Tragödien. Der Konflikt, der zwischen zwei Familien schwelt, die sich in der Einsamkeit der russischen Taiga, ausrechnet gleich nebeneinander niedergelassenen haben, ist so absurd wie beredt. In Zeiten, in denen rechtspopulistische Parteien in Europa an den Fundamenten unseres Zusammenlebens rütteln wollen, alarmieren die so sensiblen Aufnahmen in Cogitores Film, der hier als raumfüllende Installation gezeigt wird.

 

Le Musée de la Chasse et de la Nature, Sophie Calle mit Serena Carone

© Musée de la Chasse et de la Nature - Serena Carone / ADAGP -, Foto: Béatrice Hatala

© Musée de la Chasse et de la Nature – Serena Carone / ADAGP -, Foto: Béatrice Hatala

Das 1967 eröffnete Museum für Jagd und Natur ist skurril: bevölkert von Hunderten präparierten Tierkörpern, die so eindrucksvoll von der Schönheit der Tiere wie vom Trophäenhunger des Menschen zeugen. Jedes noch so kleine Detail des Gebäudes ist liebevoll gestaltet – von den Türklinken über die skulpturalen Treppengeländern zu den Auslagen in den Vitrinenschränken.

Sophie Calle, an deren Werk ich mich, so dachte ich, sattgesehen hatte, hat hier gemeinsam mit der von ihr eingeladenen Serena Carone, eine einzigartige Ausstellung hingelegt. Dass Calle genau diesen Ort gewählt hat, um (unter anderem) eine Werkreihe zum Tod ihres Vaters zu zeigen, ist an und für sich schon bemerkenswert. Der riesige Oberkörper einer präparierten Giraffe, der abrupt und brutal in einem Stumpf endet, wirkt wie ein Echo der Gewalt des persönlichen Verlusts, den die Künstlerin thematisiert. Die humorvollen, zärtlichen bis bösartigen Eingriffe Calles und Carones ziehen sich durch die ständige Sammlung des Museums und sind derart mit ihr verwoben, dass man sie fast zu übersehen droht. Bescheiden und überwältigend zugleich.

Abbaye de Maubuisson, Hicham Berrada

© ADAGP Hicham Berrada, Courtesy der Künstler, kamel mennour, Paris/London, Wentrup, Berlin und CulturesInterface, Casablanca, Foto : Catherine Brossais - CDVO -

© ADAGP Hicham Berrada, Courtesy der Künstler, kamel mennour, Paris/London, Wentrup, Berlin und CulturesInterface, Casablanca, Foto: Catherine Brossais – CDVO –

Wer das Zisterzienserinnenkloster Abbaye de Maubuisson außerhalb von Paris noch nicht kennt, muss unbedingt hinfahren. Es ist ohne Frage einer der schönsten Kunstorte, den man sich vorstellen kann. Vom ursprünglichen Klosterkomplex, der im 13. Jahrhundert von Blanka von Kastilien begründet wurde, ist, nach Jahrhunderten, in denen die Anlage unter anderem als Steinbruch diente, nur noch ein (wunderschönes) Gebäude übrig geblieben. Dort ist momentan Hicham Berradas Ausstellung 74803 jours (74803 Tage) zu sehen. Für den Salle des religieuses, dem zentralen Raum des Ausstellungsgebäudes, konzipierte Hicham Berrada eine einfühlsame Videoarbeit, die das durch die Buntfenster in den Saal fallende Licht geradezu als übersinnliche Präsenz erscheinen lässt. Ihren Titel verdankt die Ausstellung einer weiteren Arbeit Berradas: die 74803 Tage bezeichnen den Zeitraum, den die in einem Aquarium ausgestellten Bronzeskulptur unter normalen klimatischen Umständen gebraucht hätten, um so stark zu ‚altern‘, wie sie in den sechs Monaten der Ausstellung tun werden. Es lohnt sich also mehrfach ins Abbaye zu fahren, um die Verwandlung der Objekte zu beobachten.


Stephanie Weber

Stephanie Weber ist Kuratorin für Gegenwartskunst am Lenbachhaus in München. Sie studierte Kunstgeschichte, Romanische Philologie und Kulturwissenschaften in Münster und Bordeaux sowie Museumskunde an der École du Louvre in Paris. 2015 erhielt sie für die Retrospektive von Lea Lublin und den begleitenden Katalog den Justus Bier Preis für Kuratoren.