Les Vitrines ist ein Ausstellungsraum für die französische Kunstszene, der vom Bureau des arts plastiques des Institut français d’Allemagne und des Institut français de Berlin initiiert wurde. Für diese neue Ausstellungsreihe mit dem Titel L’horizon des événements wurde die künstlerische Leitung der Kuratorin Fanny Testas und die visuelle Identität dem Kollektiv Bye Bye Binary (Eugénie Bidaut, Roxanne Maillet und Léna Salabert) anvertraut. Drei französische Künstlerinnen, Vava Dudu, Lola Barrett und Fanny Taillandier, wurden eingeladen, das ganze Jahr über drei Ausstellungen zu gestalten, die neue sciences-fiction Erzählungen und Vorstellungswelten heraufbeschwören und sich als Zeitkapseln oder Wurmlöcher ausgeben.
Seit Anbeginn der Menschheit übt das Meer eine Faszination aus und wurde zu einem ergiebigen Quell für Mythen, Träume und Legenden. Noch heute bleiben die Tiefen der Meere zum Teil unerreichbar und sind weniger erforscht als das Festland oder das Weltall, was sie zum Gegenstand zahlreicher Fantasien macht. Mit ihrer Ausstellung Schneckenprinzessin kreiert Lola Barrett eine Installation, die ihre eigenen Phantasmagorien zum Lebensraum Wasser hinter Glas festhält, und lässt die Besucher:innen in eine Welt zwischen kindlichem Pop-Einfluss und retrofuturistischem Delirium eintauchen. Ausgehend von der Vorstellung, unter den „Nacktkiemern“ zu leben, schafft sie ihre eigene Realität in einem grellbunten Kokon aus aufblasbaren und mit Molton überzogenen Skulpturen.
Der Titel der Ausstellung, Schneckenprinzessin, spiegelt auch das starke Verlangen wider, im Subtext eine Vorstellungswelt der weiblichen Kraft anklingen zu lassen. Eine offene Anspielung an die Figur Tsunade aus dem Manga Naruto von Masashi Kishimoto, die im Japanischen auch „Namekuji Hime“ genannt wird und eine Frau mit unvergleichlicher physischer Stärke verkörpert. Bei dem Titel handelt es sich um eine deutsche Übersetzung, die auch im französischen Argot-Ausdruck „schneck“, der sich auf das weibliche Geschlechtsorgan bezieht, eine Bedeutung findet. „Schneckenprinzessin“ wird somit zu einem stolz auf die Fahne geschriebenen Titel, der das Frausein als Stärke proklamiert.
Lola Barrett, geboren 1993 in Paris, lebt und arbeitet in Brüssel und Paris. Im Bereich der plastischen Arbeiten beschäftigt sich Lola Barrett mit Fragen der Lebenswelten von Lebewesen und damit, wie diese sich untereinander beeinflussende Beziehungen herstellen: zwischen dem Lebendigen und dem Nichtlebendigen ebenso wie zwischen dem Gebiet und seiner historischen Narrativität bis hin zu der Art, wie die Menschheit sich dieser bemächtigt. Ihre Werke bestehen aus lauter Elementen, die sich zu Szenen zusammensetzen, in denen sie die Geschichten verkörpert, die sie erzählt. Alles ist eine Frage der Kulisse, jedes der gefertigten Stücke gibt einen Teil der Erzählung preis und stellt gleichermaßen selbst ein vollwertiges plastisches Kunstwerk dar.
Die visuelle Identität des Vitrines 2023 wurde von Fanny Testas dem französisch-belgischen Kollektiv Bye Bye Binary anvertraut, das gleichzeitig ein pädagogisches Experiment, eine Gemeinschaft, ein Atelier für variable typo-graphische Kreation, ein Netzwerk und ein Bündnis ist. BBB erforscht die Schaffung von grafischen und typografischen Formen, die sich an die inklusive Schrift anpassen lassen.
Anlässlich der Vernissage der Ausstellung „Schneckenprinzessin“ von Lola Barrett fand eine Vorführung des Kurzfilms „La nacre des ruines“ statt, gefolgt von einer Performance. Der Kurzfilm stammt aus der gleichnamigen Gruppenausstellung, die auf Lola Barretts Projekt 2022 basiert, in der Brasserie Atlas in Brüssel gezeigt und von Fanny Testas kuratiert wurde. Das Filmwerk bildet den Prolog zu der in Les Vitrines inszenierten Welt. Die Filmmusik wurde von dem in Berlin lebenden Musiker und Produzenten Eric D. Clark komponiert. Sie wurde im Rahmen der Filmvorführung live gespielt und begleitete die Performance von Lola Barrett.
„La nacre des ruines“ wendet sich in der Zukunft an uns und erzählt von den Relikten unserer Gegenwart, die nach einem Anstieg und anschließenden Rückgang der Meere zurückbleiben werden. Diese futuristischen Szenarien verstricken uns in die Absurdität des Anthropozäns, des Kapitalozäns und des Chthuluzäns von Haraway und eröffnen eine Traumwelt, um der Angst Einhalt zu gebieten. Die Zukunft ist das Unbekannte, das Mysterium: Wo sind die Menschen und welche Formen hat ihnen die durch ihr eigenes Tun veränderte Natur verliehen? Mit einem gemeinsamen Blick auf unsere ferne Zukunft in 499 Jahren, nach zahlreichen Lebenszyklen und Generationen von Lebewesen, betrachten die Künstler*innen die möglichen Veränderungen des menschlichen Lebens, der Tier- und Pflanzenwelt. Vom einstigen Leben bleiben nur sanfte Luftbewegungen, Wellen und Echos der Erinnerung. In dieser Raumzeit sind es die Steine, die diesen Erinnerungen eine Stimme geben, und das Wasser und die Luft bilden das Gedächtnis unserer Geschichte. Die Zeiten haben sich geändert, in jenem Jahr 2522. Zeit an sich hingegen existiert nicht mehr, lediglich das Schwingen der Erinnerung besteht fort.
„La nacre des ruines“ von Lola Barrett und Fanny Testas
Gedreht in der Brasserie Atlas, Brüssel, im Juni 2022
Mit Lola Barrett, Max Ricat, Marilou Guyon, Adélie Moye und Félix Rochaix
Kostüme: Lola Barrett, Laura Nataf, Max Ricat, Marilou Guyon, Adélie Moye und Félix Rochaix
Kamera: Zoltan Molnar und Fanny Testas
Filmmusik: Eric D. Clark
Schnitt: Clarisse Decroyer
3D-Animation des Titels: Mathias Moreau
Licht: Florentin Crouzet-Nico
Gezeigte Werke von Abel Jallais, Pedro Riofrío und Lola Barrett
Besonderer Dank an Nicolas Jorio, Emile Barret und Sonia Saroya
Mit der Unterstützung der Fédération Wallonie-Bruxelles