Text verfasst von Sarah Lolley im Rahmen des Stipendiums
Reise- und Forschungsstipendium
JEUNES COMMISSAIRES 2023
Das zweite Kapitel der Ausstellung „Indigo Waves and Other Stories. Re-Navigating the Afrasian Sea and Notions of Diaspora“ fand vom 6. April bis zum 13. August 2023 im Gropius Bau Berlin statt. Rund dreißig Künstlerinnen und Künstler zeigten ihre Werke zum Thema Afrasisches Meer[2], zu seinem narrativen Potential und seiner Fähigkeit, zwischen dem afrikanischen und dem asiatischen Kontinent – durch das Wasser, aber nicht nur – Verbindungen aufzubauen. Kuratiert von Natasha Ginwala und Bonaventure Soh Bejeng Ndikung mit Unterstützung von Michelangelo Corsaro zielte die Ausstellung darauf ab, die diasporischen Überlagerungen und Transfers zwischen den beiden Regionen hervorzuheben, wobei das Afrasische Meer zum „gemeinsamen Bindeglied wurde, das die Nuancen einer kulturellen, sprachlichen, politischen und historischen Reise von der Antike bis zur Gegenwart enthüllt[3] „. Das Wasser wird somit zum diskursiven Werkzeug, zu einem Medium, das verleugnete, vergessene, historische oder fiktionale Geschichten enthüllt, zu einer geografisch und zeitlich verbindenden Komponente.
Neben den zahlreichen Werken, die den Weg der Besucherinnen und Besucher säumten – von den Textilmalereien von Lavanya Mani bis hin zu den Skulpturen aus Naturkautschuk von Rossella Biscotti –, besticht Nests of Basalt, Nests of Wood der Künstlerin Clara Jo dadurch, dass es vermag, mit einem fiktiven Anstrich die an bestimmten Orten tief verwurzelten Narben und Traumata ans Licht zu bringen. Die Künstlerin konzentrierte sich auf drei dieser Orte: einen anonymen Friedhof in Albion auf Mauritius; Flat Island, ein unbewohntes Eiland rund 12 km vom nördlichsten Punkt der Hauptinsel Mauritius entfernt und im 19. Jahrhundert[4] als Quarantäne-Insel genutzt; und einen fiktionalen dritten Ort, der vom Künstler Noam Rezgui herausragend in einer 3D-Animation dargestellt wurde.
Eine weiße Leinwand. Das Video beginnt mit einem Sturzflug durch die Wolken, der eine düstere, quasi-dystopische Inselwelt enthüllt. Zwei überlagerte Stimmen – als akustische Darstellung der generationsübergreifenden Verbindung zwischen dem Vogel-Erzähler, einem endemischen Weißschwanz-Tropikvogel, und seinen Vorfahren – erzählen uns eine Geschichte. Die der ungefiederten Zweibeiner, die eines Morgens unter den neugierigen Blicken der Insel- und Meeresbewohner an Land gehen, sowie die Geschichte, die dem Vogel-Erzähler von früheren Generationen mündlich überliefert wurde, als die Insel noch nicht von Menschen bewohnt war.
© Courtesy of Clara Jo, Ausbild aus seinem Videowerk „Nests of Basalt, Nests of Wood“
Diese Vorstellung von der arten- und generationsübergreifenden Weitergabe von Wissen spielt in dem Werk eine entscheidende Rolle, in dem der Gesang der Vögel „seinen Weg bis zu den Fühlern der Insekten und in die Gedärme der Krabben findet“. Als Ergebnis ihrer Archiv-Suche spiegeln die Sequenzen dieser 3D-Animation die ozeanischen Mythen wider, in die Symbole und Anekdoten konspirativer Theorien bzw. Überreste medizinischer Heilmethoden des 19. Jahrhunderts einfließen. Das Ganze stellt einen Raum dar, in dem die verharmlosenden und aseptischen Narrative einer „offiziellen“ Vergangenheit hinterfragt werden sollen, und eine dritte Stimme, wie die dritte Ebene der 3D-Animation, vor unseren Augen verstummt.
Nach dem Leben an Land entführt uns Clara Jo in die Tiefsee. Sie eröffnet uns eine fantasievolle Unterwasserwelt und zeigt uns, woher das von dem Vogel-Erzähler erwähnte „Grollen aus der Tiefe“ kommt.
© Courtesy of Clara Jo, Ausbild aus seinem Videowerk „Nests of Basalt, Nests of Wood“
Auf die Idee des Weißschwanz-Tropikvogels als Erzähler kamen Clara Jo und der Schriftsteller Aqiil Gopee, der den Text für die Off-Stimme schrieb, während ihrer archäologischen Arbeit auf Flat Island. Die überall errichteten „Nester“ zwingen die Vögel dazu, ihre Flugbahnen zu ändern und sich dem Gelände anzupassen, wodurch eine Kartografie einer neuen Gattung entsteht und der Vogel zu einem spirituellen Leittier mutiert, das ihrer Meinung nach das gleiche Ziel verfolgt wie sie. Die Vogelperspektive mag zwar an eine imperialistische Sichtweise erinnern, dient Clara Jo jedoch in Wirklichkeit dazu, uns die – unter anderem geologischen – Risse in den von ihr dargestellten Räumen auf unterschiedlichen Ebenen, in verschiedenen Maßstäben und aus diversen Blickwinkeln betrachten zu lassen, die nur aus dieser Perspektive möglich sind.
Der Vogel-Erzähler kommentiert die dargestellten archäologischen Ausgrabungen der Menschen, die durch die Untersuchung der Fundstücke verstehen wollen, wie und warum ihre Vorfahren vor über einem Jahrhundert auf diese Insel gekommen sind. Gleichzeitig erzählt er von der Kolonialisierung von Flat Island durch die „maßlosen Monster“, die sich „Nester“ aus Basalt von denen errichten ließen, „die sie als Diener erachteten“ und die selbst in wackeligen „Nestern“ aus Holz leben mussten. Ferner weist er darauf hin, dass auch wenn die Nester aus Basalt in Teilen bis heute erhalten sind, die Holznester im Laufe der Zeit verschwunden sind, was die Tatsache unterstreicht, dass „alles vergänglich ist, manches mehr, manches weniger“. Mit Nests of Basalt, Nests of Wood lädt uns die in den USA geborene und in Berlin lebende Künstlerin ein, uns auf ihre Gedanken einzulassen: zur nautischen Imagination, zur Kolonisierung und dem, was davon übrig ist, aber auch zu Begriffen wie Zerfall und Erhalt, die den von ihr dargestellten Räumen eigen sind: ein Friedhof mit Gräbern ohne Inschriften und eine Quarantäne-Insel.
© Courtesy of Clara Jo, Ausbild aus seinem Videowerk „Nests of Basalt, Nests of Wood“
Diese Videoarbeit enthüllt zudem einen gewissen geschichtlichen Blick auf Epidemien, der sich von der traditionell eher kolonial gefärbten Sichtweise unterscheidet. Die Künstlerin untersucht in ihrer Arbeit den Zusammenhang zwischen der Ausbreitung von durch Wasser übertragenen Krankheiten und Handelswegen, welche die kolonialen Routen geprägt haben. Zudem wurden beide Komponenten stark von den Monsunwinden beeinflusst. Diese Arbeit reiht sich ein in die zuvor von Clara Jo geschaffenen Werke, darunter vor allem ihr Video De Anima (2022). Darin untersucht sie, wie verschiedene wirtschaftliche, metabolische, rassistische und geschlechtsspezifische Systeme, die in das globale Gesundheitssystem eingebettet sind – während der COVID-19-Krise wurde dies besonders deutlich -, die Angst vor einer Kontamination durch die nichtmenschliche Welt vorantreiben. Im weiteren Sinne unterstreichen die beiden Videos unsere Fähigkeit, die traumatischsten Momente der Geschichte zu vergessen.
Mit Nests of Basalt, Nests of Wood schafft Clara Jo eine Ode gegen das Vergessen, eine Hommage an die Geheimnisse, die im Wasser verborgen sind und nun an die Ufer gespült werden, an die Geheimnisse in den Rissen der Insel, in die sich die Vögel flüchten, wenn der Himmel sich trübt. Sie vermischt Archivmaterial, wissenschaftliche Fakten und existierende Mythen und beschreitet einen Weg, auf dem spekulatives Erzählen nicht die Lücken einer verzerrten Kolonialgeschichte füllen soll, sondern vielmehr betonen, dass diese Lücken existieren, und so zu versuchen, die „Spur“ verschwiegener Geschichten „zurückzuverfolgen[5] „.
Das Ende des Videos erinnert an das Auge eines Wirbelsturms, an diesen ruhigen Moment inmitten des Sturms, ähnlich dem Moment des Gedenkens, den die Künstlerin in ihrem Werk zum Thema macht. Dieser Moment, der ein Vorzeichen für neue, kommende Unruhen ist, ist alles andere als ein Selbstzweck, sondern vielmehr eine Mahnung für die Zukunft: „Es wird Stürme und Tornados geben“.
Sarah Lolley
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Das Reise- und Forschungsstipendium ist eine Initiative des BDAP und ein vom DFJW (Deutsch-Französisches Jugendwerk) gefördertes Projekt.
[*] Ausschnitt aus Nests of Basalt, Nests of Wood von Clara Jo, Videoinstallation 4K, Stereo-Sound, 24’59”, 2023
[2] In der Ausstellung unterstreicht John Njenga Karugia das koloniale Erbe des Begriffs „Indischer Ozean“ und regt die Verwendung des Begriffs „Afrasisches Meer“ an, was er wie folgt begründet: „Jede Gemeinschaft hatte ihren eigenen Namen für diese ozeanische Wassermasse. […] Die Verwendung des Begriffs „Indischer Ozean“ als analytisches Mittel ist verwirrend und verhindert zahlreiche Fragen, die mit dem Kosmopolitismus dieser ozeanischen Räume zusammenhängen. Auch zwingt sie geografischen Regionen, die ihre eigenen Ethnien und Nationen haben, eine „indische“ ethnische und nationale Identität auf. Die Bezeichnung „Indischer Ozean“ beschränkt uns zudem auf die Küste, d. h. auf die Schnittstellen, an denen das Meer und das Land aufeinandertreffen. Der Begriff „Afrasisches Meer“ hingegen eröffnet Möglichkeiten des Nachdenkens über die zahlreichen Dynamiken, die Afrika und Asien miteinander verbinden, ohne sich nur auf die Küste zu beschränken.“
[3] Einleitungstext zur Ausstellung
[4] Während der Cholera-Pandemie in den 1850er Jahren, der Malaria-Pandemie in den 1860er Jahren und während der Beulenpest zu Beginn der 1900er Jahre wurde Flat Island zu einer wichtigen Quarantäne-Insel der Region. Um die restliche Bevölkerung zu schützen, wurden die Kranken, überwiegend Zwangsarbeiter*innen oder ehemalige Zwangsarbeiter*innen, freie Reisende und Mauritier*innen auf diese Insel gebracht.
[5] E. Boehmer, A. Mondal, “Networks and Traces”, Wasafiri, n°27, 2012, S. 31.